Helen Macdonald: „Abendflüge“

Wunderkammer Natur

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Das Buchcover "Abendflüge", mit der Illustration einer Schwalbe am blauen Himmel, ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
In ihren Essays verbeugt sich Helen Macdonald vor dem Reichtum der Natur. © Deutschlandradio / Hanser
Von Susanne Billig · 18.05.2021
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Mit "H wie Habicht" wurde Helen Macdonald zum Shootingstar des Nature Writing. In ihrem neuen Essayband schreibt sie über Hasen und Hirsche, Gewitter und Vogelwarten, Verstecke und Ameisen. Es gibt nichts, was die Britin nicht fasziniert.
"Ich habe einmal einen toten Mauersegler gefunden, ein Spelzchen von einem Vogel unter einer Brücke über die Themse, wo das Sonnenlicht auf dem Wasser glitzernde Kritzeleien auf die Bogen darüber warf."
Sanft und persönlich beginnt der titelgebende Essay "Abendflüge" des neuen Buches von Helen Macdonald. Sie habe den Vogel aufgehoben, schreibt sie, "die Flügel gekreuzt wie stumpfe Schneiden, die Augen fest geschlossen."
Was sollte sie mit dem toten Tier tun? Überrascht stellte die Britin fest: Sie wusste es nicht.

Natur begreifbar machen

Um Begegnungen mit toten, lebendigen und in ihrem Überleben schmerzhaft bedrohten Tieren geht es in diesem Buch, um Landschaften und um Menschen, die ihrerseits Tiere und Landschaften lieben. Die Texte entstanden in den letzten zehn Jahren und sind nun zwischen zwei Buchdeckeln zusammengefügt.
Sie hoffe, erklärt die Autorin, dass "Abendflüge" wie eine jener Wunderkammern funktioniere, die im 16. Jahrhundert groß in Mode kamen: Holzkästen mit einem Sammelsurium exotischer Objekte, Korallen und Fossilien, Kleidungsstücke aus fernen Ländern, präparierte Vögel und Fische.
Anders als in heutigen Museen sei es damals üblich gewesen, die Objekte im Kasten zu berühren, ja, sie sogar herauszunehmen, um ihr Gewicht zu spüren. Hautnah, zum Anfassen, Berührtwerden, Staunen, manchmal auch Weinen und immer Mittendrinsein, so will Helen Macdonald schreiben.
Und so schreibt sie auch: Über einen toten Mauersegler, mit dem sie nicht weiß wohin und von dem aus sie das wundersame Leben dieser Vögel aufrollt, die kaum je den Boden berühren und nachts in dünne Luftschichten aufsteigen, weit über die Wolken hinaus.

Fragen an das Leben

Über Hasen und Hirsche, Gewitter und Vogelwarten, Verstecke und Ameisen und winterliche Wälder sinniert Helen Macdonald, greift in die Wunderkammer der Erde und lässt deren Phänomene behutsam, aber entschlossen mit sich selbst, ihren Fragen an das Leben und Kindheitserinnerungen kollidieren. Mitunter wird es auch politisch: Brexit, Rassismus, das Schicksal im Stich gelassener Flüchtlinge beschäftigen die Autorin.
Ohne sich groß in den Vordergrund zu spielen, lässt Helen Macdonald auch durchblicken, dass sie als Kind in der Schule gemobbt wurde. Abends lag sie schlaflos im Bett und stellte sich die vielen Schichten zwischen sich selbst und dem Mittelpunkt der Erde vor, zum Trost in einer verwirrenden Welt.
Wenn es ein Thema gebe, dass ihrem literarischen Schaffen unterliege, dann sei es sicherlich die Liebe, auch das erwähnt Helen Macdonald im Vorwort. Eine Liebe, die sich bei Ameisen und Mauerseglern besser aufgehoben fühlt als unter den Menschen.

Schillernde Texte

Manche dieser 41 Essays sind gerade einmal eineinhalb Seiten lang, andere tauchen detaillierter in Themen ein, viele enden abrupt, man möchte umblättern, um zu schauen, ob es nicht doch auf der nächsten Seite weitergeht.
Und das tut es: mit einem neuen schillernden Text, einer nächsten Entdeckung, einer literarischen Verbeugung vor dem so kostbaren und so verheerten Reichtum der Natur.

Helen Macdonald: "Abendflüge"
Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Kretschmer
Hanser/München 2021
352 Seiten, 24 Euro

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