Heldin mit Minderwertigkeitskomplexen

Rezensiert von Maike Albath · 28.07.2005
Marie NDiayes "Rosie Carpe" ist ein Roman über Verstoßung, Demütigung und verfehlte Elternschaft. Die Heldin ist Rosie, eine unförmige Französin voller Minderwertigkeitskomplexe. Sie hat weder Geld noch Arbeit, zu allem Überfluss erwartet sie ein Kind, ohne sich an eine sexuelle Begegnung erinnern zu können.
Marie NDiayes "Rosie Carpe" ist ein Roman über Verstoßung, Demütigung und verfehlte Elternschaft. Die Heldin Rosie, eine unförmige Französin voller Minderwertigkeitskomplexe, trifft mit ihrem kleinen Sohn Titi auf dem Flughafen von Guadeloupe ein. Vollmundig hatte ihr Bruder Lazare in seinen Briefen seine geschäftlichen Erfolge gepriesen, und jetzt ist er ihre letzte Hoffnung. Rosie hat weder Geld noch Arbeit, zu allem Überfluss erwartet sie ein Kind, ohne sich an eine sexuelle Begegnung erinnern zu können.

Aber Lazare kommt nicht, stattdessen trifft nach einer Weile ein hagerer Schwarzer namens Lagrand ein, untadelig gekleidet, höflich, distanziert, und nimmt Rosie in Empfang. Lazares vermeintlicher Reichtum entpuppt sich als Traumgespinst: Sein Haus ist eine rattenverseuchte Bruchbude, er hat eine Tochter mit einer 16-jährigen Schülerin gezeugt, um die er sich nicht kümmert, seine finanzielle Lage ist desolat. Außerdem scheint er irgendetwas auf dem Kerbholz zu haben, denn er hält sich versteckt.

An das Familienelend vor exotischer Kulisse schließt ein zweiter Teil an, in dem Rosies und Lazares Vorgeschichte geschildert wird. Wie der aufmerksame Leser bereits vermutet, handelt es sich bei der 22-jährigen Protagonistin um eine grenzenlos naive und etwas beschränkte Person. Rosie wuchs mit ihrem Bruder in der französischen Provinz auf. Ihr kleinbürgerliches Elternhaus war lieblos und kalt. Kaum sind die Kinder alt genug, werden sie in einer angemieteten Wohnung in Paris verwahrt, um einen Beruf zu erlernen. Doch sie scheitern auf ganzer Linie. Lazare gerät auf die schiefe Bahn, bis er mit geliehenem Geld und obskuren Geschäftsideen nach Guadeloupe ausreißt. Die kleinbürgerlichen Eltern, durch einen Lottogewinn plötzlich wohlhabend geworden, folgen dem Sohn, der zielsicher das gesamte Vermögen in den Sand setzt. Rosie kommt als Hilfsköchin in einem tristen Vororthotel unter, lässt sich vom Vizedirektor schwängern und in private Pornodreharbeiten verwickeln. Sie bringt den wachspuppenartigen Titi zur Welt, ist permanent überfordert und verfällt - auch das noch - dem Alkohol. In einer Mischung aus Verzweiflung und Apathie greift sie nach dem letzten Strohhalm und fliegt zu Bruder und Eltern nach Guadeloupe.

Leider belässt es die in Frankreich geborene Autorin nicht bei diesem deftigen Sozialpanorama, sondern setzt noch eins drauf. Nachdem wir die emotionale Verwahrlosung des white trash zur Genüge kennen gelernt haben, werden wir mit inzestuösen Beziehungen der Familie Carpe unterhalten - plus einer Schwangerschaft der Mutter, die immerhin jenseits der 50 ist. Das biologische Wunder wird noch übertrumpft durch den drohenden Tod des vernachlässigten Titi, der Rosie durchaus zupass käme, einem blutrünstigen Mord mit Machete, den Lazare mitverschuldet, und einer dramatischen Fehlgeburt, die Rosie erleidet (die gerechte Strafe). Ach ja, die Tochter von Mutter Carpe, ein blendend schönes Geschöpf, wird von ihren Eltern Jahrzehnte später als Prostituierte rekrutiert. Als positive Identifikationsfigur muss der alerte Schwarze herhalten, der trotz seiner Beschädigungen (seine Mutter sitzt im Irrenhaus und ließ ihn schon als Kind im Stich) sein Leben meistert und am Ende sogar Rosie erlöst. Wir ahnten es schon: Die weiße Rasse hat abgewirtschaftet, sie ist bankrott.

Wagnerianisch anmutendes Schicksalsgetöse, eine melodramatische Grundkonstellation, die jede Boulevard-Polizeireportage in den Schatten stellt - Marie NDiaye bietet wenig Freude. Zwar entspinnt sie souverän die Handlungsfäden und gewinnt den Eltern-Kind-Beziehungen vielfältige Facetten ab, aber ihr Roman ist symbolisch völlig überfrachtet, aufgebläht und von ermüdenden Wiederholungen durchsetzt. Nicht nur die blumigen Formeln sind schwer erträglich, immer wieder variiert sie wortreich die Gefühlslagen ihrer Figuren und legt ein süßliches Pathos an den Tag: "Und in ihr war der Schrei der verstummten Rinder, als hätte die Todesklage die kleine Schlucht verlassen, um sich in ihrem Qualen leidenden Geist einzunisten."

Rosie heißt Carpe - Karpfen mit Nachnamen, und die innerlich betäubte junge Frau wirkt in der Tat wie ein kalter Fisch. Ihr zweiter Vorname Marie passt zu der mysteriösen Empfängnis. Natürlich ist auch der Name des Bruders Lazare Programm: Lazarus, der von Jesus aus dem Grab Auferweckte, eine zentrale Figur der französischen Passionsspiele, wird bei NDiaye in einer Umkehrung zu einem Toten unter Lebenden. Die innere Verrohung der Eltern Carpe findet ihre Entsprechung in einem fauligen Kloakengeruch, Horden von Ratten stehen für die Unachtsamkeit von Rosie, bei jedem Anfall von Einsamkeit beginnen die Rinder zu blöken. Nicht zuletzt hat das Buch auch erzähltechnische Mängel: Figurenrede und Introspektion sind häufig zu intelligent für das Bildungsniveau der Personen, was unfreiwillig komisch wirkt: "Sie wusste nicht, wie es sein konnte, dass sie unfähig war, sich zu weigern." Sieben Romane hat Marie NDiaye bereits verfasst, "Rosie Carpe" wurde sogar mit dem renommierten Prix fémina ausgezeichnet. Erstaunlich.

Marie NDiaye, Rosie Carpe. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag. Frankfurt/Main 2005. 334 Seiten, 24, 80 €.