Held der Atomwaffengegner

Von Frank Kempe · 30.09.2011
Neun Jahre arbeitete Mordechai Vanunu in Israels geheimer Atomforschungsanlage. Als er die Welt über die atomare Aufrüstung in seinem Land unterrichtet, zieht der Mossad ihn aus dem Verkehr.
London, Leicester Square – ein hagerer Mann mit kurzem schwarzen Haar schlendert ziellos durch die Fußgängerzone: Mordechai Vanunu, israelischer Staatsbürger, 31 Jahre alt. Vor einem Schaufenster lernt er "Cindy" kennen - eine hübsche blonde Amerikanerin, Mitte 20. Was Vanunu nicht ahnt: "Cindy" ist ein Lockvogel des israelischen Geheimdienstes Mossad und sie ist auf ihn angesetzt – den vermeintlichen "Staatsfeind Israels". Der britische Journalist Gordon Thomas beschreibt in seinem Buch "Die Mossad-Akte", wie Geheimdienstchef Nachum Admoni die Agentin persönlich instruierte.
"Ihre Tarnung sei diesmal die einer amerikanischen Touristin, die nach einer schmerzlichen Scheidung quer durch Europa reise. (...) Der entscheidende Punkt ihrer Geschichte sei, dass sie eine in Rom lebende 'Schwester' hätte. Ihr Auftrag sei es, Vanunu dorthin zu bringen."
Aus der Sicht des Mossad ist Eile geboten. Denn Vanunu ist in London gerade dabei, das wichtigste militärische Staatsgeheimnis Israels zu lüften: die atomare Bewaffnung. Seit zwei Wochen gibt er Reportern der "Sunday Times" detailliert Auskunft über das streng abgeschirmte Atomforschungszentrum "Dimona" in der Wüste Negev – neun Jahre lang hat er in dem unterirdischen Geheimkomplex gearbeitet - bis zu seiner Entlassung 1985. Zuvor habe Vanunu noch heimlich fotografiert, was verborgen bleiben sollte, erzählt der israelische Politikwissenschaftler Yoel Cohen:
"Er machte 57 Fotos im Reaktor, wusste aber nicht so recht, was er damit anfangen sollte. Das war 1985. Dann im April 1986 Tschernobyl. Da wurde Vanunu bewusst, dass er über das sprechen musste, was er als ein mangelndes internationales Bewusstsein für Israels Atomprogramm betrachtete."
Vanunu, ein Vorkämpfer für Frieden und Abrüstung. Für die israelische Regierung ist der Sohn marokkanischer Einwanderer ein Verräter, der die Sicherheit des Landes aufs Spiel setzt. Am 30. September 1986 schnappt die Mossad-Falle zu: Trotz Warnungen der Londoner Journalisten steigt Vanunu mit "Cindy" in eine Maschine nach Rom. In der Wohnung der angeblichen Schwester warten zwei Männer: Sie überwältigen und betäuben Vanunu. Anschließend wird er in eine Kiste verfrachtet und mit einem Schiff nach Israel gebracht.

Fünf Tage später titelt die "Sunday Times": "Enthüllt: Die Geheimnisse des nuklearen Arsenals Israels". Was die Welt bisher nur vermutete, ist jetzt bestätigt: Israel besitzt Atomwaffen. Vanunu wird in einem Geheimprozess zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Er muss die Strafe voll absitzen, fast zwölf Jahre davon in Einzelhaft. Eine Härte, die völlig überzogen sei, meint der Politikwissenschaftler Cohen:

"Sie wollten Vanunu brechen, sie wollten ihn verstummen lassen. Sie hofften wahrscheinlich, dass die gewaltige psychologische Belastung dazu führen würde, dass er abstumpfen und viel über Dimona vergessen würde. (…)"

Die strengen Haftbedingungen machen Vanunu zu einer Symbolfigur für Zivilcourage und zu einem Helden der weltweiten Antiatombewegung. Er wird mit Auszeichnungen überhäuft, erhält unter anderem den Alternativen Nobelpreis. Am 21. April 2004 tritt Vanunu durch das Gefängnistor von Ashkelon in die Freiheit - die Finger zum Siegeszeichen gespreizt:
"Ich bin stolz und glücklich über das, was ich getan habe. Ich bin froh, dass ich damit Erfolg hatte. Ich habe keine weiteren Geheimnisse mehr. Das ist alles Unsinn. Meine Geschichte, mein Fall ist beendet, seit der Artikel veröffentlicht wurde, gibt es keine Geheimnisse mehr. Alle Geheimnisse sind in der Welt, die gesamte Welt – alle 180 Staaten der Welt kennen dieses Geheimnis."
Aufgrund von Vanunus Enthüllungen gehen Experten heute davon aus, dass Israel mindestens 200 Atomsprengköpfe besitzt. Das dürfte abschreckende Wirkung haben auf verfeindete Staaten wie den Iran, der selbst an der Atombombe bauen soll.

Mordechai Vanunu lebt heute in Tel Aviv und engagiert sich weiterhin gegen Atomwaffen, allerdings sind seine Möglichkeiten begrenzt: Er darf keine Interviews geben, keinen Kontakt zu Ausländern haben und er darf Israel nicht verlassen. Im Mai hat der 56-Jährige deshalb die israelische Regierung um seine Ausbürgerung gebeten. Eine Antwort hat er nicht bekommen.