Heinz Duchhardt: "Der Aachener Kongress 1818"

Ein Kongress, der nicht tanzte, sondern lieferte

Blick auf den Marktplatz von Aachen & Cover von "Der Aachener Kongress"
Blick auf den Marktplatz von Aachen & Cover von "Der Aachener Kongress" © Imago / Buchcover "Der Aachener Kongress 1818"
Von Thomas Brechenmacher · 29.09.2018
Nach dem Untergang des Napoleonischen Imperiums sortierte sich Europa neu. Auf dem Aachener Kongress 1818 gewann die Friedensdiplomatie neue Konturen. Das Buch Heinz Duchhardts darüber ist ein Kabinettstück reifer historischer Prosa.
Der Wiener Kongress ist den meisten geläufig. Mit dem drei Jahre später, 1818, in Aachen stattfindenden Kongress dürften hingegen die wenigsten etwas verbinden. Das ist weiter nicht schlimm. Der Kongress in Wien war ein Weltereignis, derjenige zu Aachen ein Folgeereignis davon.
Historiographisch reizvoll, zumal in einem Jubiläumsjahr, ist der Versuch eines Perspektivenwechsels: die Friedensdiplomatie der Mächte im 19. Jahrhundert einmal nicht von Wien, sondern von Aachen aus zu betrachten und Kontinuitäten anzudeuten, die uns nicht sofort ins Auge fallen.
"Gipfeltreffen von Staatspräsidenten und Regierungschefs zählen seit den 1980er-Jahren [...] zu den Normalitäten einer 'nachmonarchischen' Zeit, die glaubt, im persönlichen Austausch der Staatsmänner die Gebrechen eines Kontinents oder der ganzen Welt heilen und den Weg in eine bessere Zukunft planieren zu können: Die EU- und NATO-Gipfel, die EU-Afrika-Gipfel, die G7-, G8- und G20-Gipfel, die Klimagipfel und vieles andere mehr stehen für diesen Trend, dem spektakulären Zusammentreffen einer politischen Spitzenelite mehr zuzutrauen als dem stillen und beharrlichen [...] Arbeiten von Diplomaten und Experten."

Ein zweitrangiges Ereignis, erstrangig beschrieben

Wien und Aachen als Vorbilder von Toronto, Heiligendamm oder Genua? Wer jetzt neugierig ist oder auch einfach nur eine Wissenslücke zur Geschichte des 19. Jahrhunderts schließen möchte, hat hier die Gelegenheit: Heinz Duchhardt, Altmeister der diplomatiehistorischen Frühneuzeitforschung, legt ein kleines, sehr feines Buch über den Kongress von Aachen vor.
Selbstverständlich lässt sich Duchhardt angesichts des Jubiläums nicht dazu verleiten, sein Ereignis größer zu machen als es war, nur weil es eine runde Jahreszahl dazu gibt. Aachen war verglichen mit Wien ein kleiner Kongress der vier Monarchen, des österreichischen Kaisers Franz I., des russischen Zaren Alexander I., des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. und – in Abwesenheit – des britischen Prinzregenten George sowie ihrer leitenden Minister, von Metternich über Hardenberg bis Castlereagh.

Wie behandelt man einen Verlierer?

Kultur, Fest, höfisch-monarchischer Pomp spielten in der alten Kaiserstadt, die mittlerweile eine eher bescheidene Bürgerstadt mit immerhin vielversprechender proto-industrieller Entwicklung war, zwar auch ihre Rolle – dies alles wird von Duchhardt minutiös beschrieben – , doch im wesentlichen ging es um die Arbeit, die politische Agenda. Und diese hieß nicht, die vielen in Wien liegengebliebenen Probleme wiederaufzunehmen, sondern die fünfte Großmacht, Frankreich, nach der militärischen Niederwerfung von 1813-1815 behutsam in den Rahmen des in Wien etablierten Systems des europäischen Gleichgewichts einzugliedern.

Europa hatte 1815 zwei Jahrzehnte furchtbarer Kriege hinter sich, ausgelöst von der Revolution in Frankreich, und voran- und auf die Spitze getrieben von ihrem Geschöpf, dem größenwahnsinnigen Diktator Napoléon Bonaparte. Die schließlich siegreichen Großmächte Russland, Österreich, Preußen und England versuchten in Wien, den Kontinent zu restabilisieren.

Dass die Wiener Ergebnisse den Hoffnungen der entstehenden liberalen Verfassungs- und Nationalbewegungen nicht gerecht wurden, ist bekannt. Für deren politische Bestrebungen kannten die Monarchen und ihre Bürokratien nur das Schreckenswort der Zeit: Revolution. Revolution bedeutete Krieg und Zerstörung, und Krieg sollte nicht mehr, nie mehr sein nach den verheerenden Erfahrungen der Vergangenheit. Ruhe und Frieden sollten gewährleistet werden durch ein multilaterales Wertebündnis – die sogenannte Heilige Allianz – und ein exklusives, gegen Frankreich gerichtetes Verteidigungsbündnis der Vier, die sogenannte "Quadrupelallianz".

Das politisch unter den re-installierten Bourbonen nach wie vor instabile Frankreich dauerhaft mit Reparationen und Besatzungsheeren zu belegen und als Paria zu behandeln, entsprach dann aber schon wenige Jahre nach der definitiven Niederlage des korsischen Diktators nicht mehr der politischen Raison.

Eine elegante diplomatische Lösung setzt sich durch

Der Aachener Kongress fand eine elegante Lösung: Zwar blieb die Quadrupelallianz in einer geheimen Abrede der Vier bestehen für den Fall, dass in Frankreich erneut die Revolution ausbräche oder gar der noch immer gefürchtete Bonaparte aus seiner Verbannung zurückkehrte. Andererseits wurde Frankreich in ein neues europäisches Stabilitätssystem integriert, das als "Konzert der Mächte" berühmt wurde.

Für Duchhardt stellt diese neue, über die Wiener Ordnung hinausgehende europäische Ordnung unter den Maximen der "Gerechtigkeit, der Mäßigung und der Eintracht" eine Art Geniestreich dar:

"Das war die hohe Schule einer Diplomatie, die Männern wie Metternich und Castlereagh bis heute einen Ehrenplatz in der Diplomatiegeschichte sichert. Das Konstrukt des ,Europäischen Konzerts’ [...] wurde [...] zu einem Institut des Völkerrechts. Es sollte cum grano salis bis zum Ersten Weltkrieg das Staatenleben prägen."

Natürlich zeigt Duchhardt auch, um welchen Preis dieses System eingeführt wurde, führt doch von Aachen aus ein ziemlich schleuniger Weg in das "Zeitalter der Restauration". Doch auch eingedenk all der finsteren Züge dieser Epoche hebt er das ehrliche Bemühen der Monarchen und ihrer Minister hervor, um einer einigermaßen stabilen Friedensordnung willen "den Herausforderungen der Zeit [zu] begegnen und politische Vernunft mit Sicherheitsdenken [zu] verbinden."

Gelungene Eingliederung eines "Verliererstaates"

Mit der Konstruktion von Parallelen zu internationalen Polit-Großereignissen der Gegenwart hält sich Duchhardt – obwohl er solche Möglichkeiten eingangs andeutet – dann doch zurück. Den Gedankentransfer muss der Leser vollbringen. Wenn Duchhardt aber betont er, dass Aachen der Ort gewesen sei, "an dem die weitgehende Wiedereingliederung eines ,Verliererstaates’ exemplarisch gelungen" sei, sieht er dies natürlich im Unterschied zu einem anderen internationalen Kongress, der Pariser Friedenskonferenz von 1919.

Duchhardts Buch behandelt aber nicht nur die hohe Politik. Es widmet sich ebenso der spezifischen Atmosphäre des Kongresses in Aachen, stellt in kleinen Charakterstudien die Hauptprotagonisten vor, erörtert die logistischen Probleme, vor die der Aachener Magistrat gestellt war, um ein derartiges europäisches Großereignis zu bewältigen, und zeichnet den Kongress auch als touristisches, künstlerisches, musikalisches und gesellschaftliches Event.

Duchhardt schreibt in einem angenehm fließenden Stil, einfach, wesentlich, ohne jeglichen Historikerjargon. Alles aber fußt auf intimer Kenntnis nicht nur des historischen Kontexts, sondern auch der archivalischen Überlieferungen zum Aachener Kongress. Das handliche Buch von 262 Seiten ist ein Lektürevergnügen und ein Kabinettstück reifer historischer Prosa.

Heinz Duchhardt: Der Aachener Kongress 1818. Ein europäisches Gipfeltreffen im Vormärz
Piper Verlag, 256 Seiten, 24 Euro

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