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Flüchtlinge in Griechenland
"Zustände sind fürchterlich und da muss geholfen werden"

Für die Flüchtlingskinder müsse eine schnelle Lösung gefunden werden, sagte der migrationspolitische Sprecher der SPD, Lars Castellucci, im Dlf. Parallel müsse an einer europäischen Lösung gearbeitet werden. Deutschland könne mehr tun, um zu helfen – es allerdings niemals alleine schaffen.

Lars Castellucci im Gespräch mit Christiane Kaess | 24.12.2019
Lars Castellucci, Abgeordneter der SPD im Bundestag, und Kandidat für den Landesvorsitz in Baden-Württemberg, spricht beim Landesparteitag der SPD Baden-Württemberg vor der Wahl.
Will sich für eine Zustimmung einsetzen beim Bundesinnenminister, dass Länder Flüchtlingeskinder aus Griechenland aufnehmen können: Lars Castellucci (picture alliance / Sebastian Gollnow)
Christiane Kaess: Seit Langem ist bekannt, dass die Lage der Flüchtlinge, die auf den griechischen Inseln gestrandet sind, katastrophal ist: Dort, wo Platz für etwa 7.500 Menschen ist, leben mehr als 40.000 unter schwierigsten Bedingungen. Bis zu 4.000 Kinder solle Deutschland aus den heillos überfüllten Flüchtlingslagern dort holen, auch ohne europäischen Konsens. Das fordert Robert Habeck, Vorsitzender der Grünen. Vonseiten der Regierung heißt es, Deutschland wolle die Situation vor Ort verbessern, aber es könne nicht im Alleingang Flüchtlingskinder aufnehmen. CDU und CSU sind klar gegen eine Aufnahme, Entwicklungsminister Gerd Müller von der CSU meint, den Kindern kann und muss am wirksamsten vor Ort geholfen werden. Scharfe Kritik an Habecks Vorschlag kommt aus der FDP, Generalsekretärin Linda Teuteberg spricht von einer PR-Aktion kurz vor Weihnachten, die nicht helfe, das Fluchtproblem verantwortungsvoll zu lösen.
Lars Castellucci ist Sprecher für Migration und Integration der SPD-Bundestagsfraktion und er ist Mitglied im Innenausschuss. Guten Morgen!
Lars Castellucci: Schönen guten Morgen, Frau Kaess!
Kaess: Soll die Bundesregierung diese Kinder nach Deutschland holen?
Castellucci: Die Bundesregierung muss sich für eine tragfähige und schnelle Lösung einsetzen. Das wird auch heißen, dass zumindest ein Teil der Kinder nach Deutschland kommen sollte.
"An tragfähigen Lösungen arbeiten"
Kaess: Jetzt ist die SPD ja geteilter Meinung, so wie das im Moment aussieht. Ich zitiere mal ein paar Stimmen. Die Parteichefin Saskia Esken, die sagt, "wir müssen die Situation vor Ort verbessern, aber auch die Aufnahme von geflüchteten Menschen in anderen Mitgliedsstaaten ermöglichen". Bärbel Kofler, die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, sagt, "die EU-Kommission muss einen neuen Anlauf für die Verteilung von Flüchtlingen nehmen", also sie bleibt auch vage. Demgegenüber steht Staatsminister, Außenminister Michael Roth als Mitglied der Regierung, der ist für eine Aufnahme. Und Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius sagt sinngemäß, "die Kapazitäten sind da, wir können solche Kinder aufnehmen". Was ist jetzt eigentlich die Position der SPD?
Castellucci: Ja, gut, alle haben recht. Wir müssen beides leisten: Humanität beweisen und an tragfähigen Lösungen arbeiten. Und man muss vielleicht heute an so einem Morgen auch mal sagen, also Hoffnung entsteht ja nicht nur aus Empörung, sondern auch aus der Kraft, dass auch schon Gutes passiert. Wir sind bereits das fünftgrößte Aufnahmeland weltweit, wir sind das zweitgrößte Geberland weltweit. Jetzt heißt Verantwortung für mich aber, dass man tut, was man kann. Und ja, da glaube ich schon, wir können auch mehr tun, aber wir können es niemals alleine schaffen. Und deswegen heißt eine tragfähige Lösung auch, dass es eine europäische Lösung geben muss. Wir müssen an beidem arbeiten. Wir müssen uns selbst bereit erklären, zu helfen, aber wir müssen auch bei den europäischen Partnern dafür werben, dass sie mitziehen.
Kaess: Aber Herr Castellucci, wäre da nicht noch eine eindeutigere Position der SPD nötig, um auch den Koalitionspartner zu überzeugen? Denn die Union ist ja ganz klar dagegen.
Castellucci: Also ich kann Ihnen mal verraten, wie das gehen könnte: Es gibt ja Länder, beispielsweise hat sich Boris Pistorius gerade gemeldet oder Herr Kretschmann hat sich gemeldet aus Baden-Württemberg, mein eigener Landesvater, dass diese Länder bereit wären, Geflüchtete von diesen Inseln, Kinder aufzunehmen. Herr Kretschmann sagt, der Bund solle die Entscheidung treffen, dann wäre im Anschluss Baden-Württemberg bereit, aufzunehmen. Das ist ja nun immer so, wenn der Bund etwas entscheidet, dann müssen die Länder mitmachen. Der Weg im Gesetz ist aber ein genau umgekehrter, es gibt das Stichwort Landesaufnahmeprogramm. Herr Kretschmann kann also mit seiner Regierung entscheiden: Wir nehmen 500, wir nehmen 1.000, so wie das bei den Jesidinnen passiert ist vor einigen Jahren, die ausgeflogen worden sind und in Baden-Württemberg untergekommen sind – und dann muss das Bundesinnenministerium seine Zustimmung erteilen. Und das fände ich jetzt den schnellsten Weg. Ein Land wie Baden-Württemberg, das stark genug ist, so etwas zu schultern und wo die Städte und Gemeinden sich zum Teil als sichere Häfen auch bezeichnen und aufnahmebereit sind, wo die Menschen bereit sind, zu helfen, da sollte jetzt vorangeschritten werden. Dann werde ich mich sofort beim Bundesinnenminister dafür einsetzen, dass diese Zustimmung auch erteilt wird.
Kaess: Ja, aber jetzt haben Sie gerade selber schon beschrieben, dass die Länder eben, also die Bundesländer den umgekehrten Weg gehen wollen, nämlich erst das Bundesinnenministerium, sich dort die Genehmigung holen oder die Erlaubnis. Und da sagt Herr Seehofer ganz klar nein. Also wird aus dem Ganzen nichts.
Castellucci: Herr Seehofer muss sich um eine europäische Lösung bemühen. Und ich glaube, dass es in den Verhandlungen mit den europäischen Partnern in der Tat nicht hilfreich ist, wenn Deutschland von vornherein sagt: Wir machen das alles. Das ist uns 2015 in einer Ausnahmesituation, in der richtig entschieden wurde, zu helfen, aber hinterher auf die Füße gefallen, dass es ein deutscher Alleingang war. Es darf keine deutschen Alleingänge geben. Herr Seehofer war schon sehr erfolgreich im Sommer, als er es geschafft hat, einen Mechanismus zu finden, dass die Menschen von den Booten geholt werden. Da sind auch europäische Länder mit aufgesprungen und das funktioniert seitdem nicht gut, aber es funktioniert auf jeden Fall besser als zuvor. Vergleichbar muss es jetzt auch sein bei den Kindern von den griechischen Inseln.
Kaess: Ja, aber jetzt verstehe ich Ihre Position nicht, Herr Castellucci, denn auf der einen Seite sagen Sie, die Bundesländer sollen diese Kinder aufnehmen und zwar, ohne erst auf die Erlaubnis des Bundesinnenministeriums …
Castellucci: Nein, nein.
Bundesländer sollten "formal den Antrag" stellen
Kaess: … zu warten, und gleichzeitig sagen Sie aber, Herr Seehofer hat recht, der sagt, nein, wir nehmen niemanden auf, wir wollen eine europäische Lösung.
Castellucci: Ja, noch mal: Wir brauchen beides. Manchmal sind die Dinge komplizierter. Wir müssen helfen: Das geht am schnellsten, wenn ein Land formal den Antrag stellt, wir nehmen auf, dann – und da haben Sie mich dann möglicherweise missverstanden – muss das Innenministerium zustimmen, für diese Zustimmung würde ich mich einsetzen beim Bundesinnenminister.
Kaess: Und die kommt ja nicht, die kommt ja nicht, denn Herr Seehofer sagt ja ganz klar, machen wir nicht.
Castellucci: Also ich würde sagen, Antrag stellen, dann ist der Druck da, hier zu helfen. Und ich kann Ihnen nur sagen, wofür ich mich dann einsetze. Wir können jetzt nicht einfach sagen, das wird nicht passieren und deswegen bewegen wir uns nicht und warten, dass der Bundesinnenminister alleine tätig wird. Was der Innenminister aktuell macht, was die Bundesregierung tut, ist, vor Ort Hilfe zu leisten. Das ist immerhin etwas. Und was passiert, ist, dass auf europäischer Ebene nach Partnern gesucht wird, um gemeinsame Lösungen zu finden. Und das müssen wir gleichzeitig machen mit der Hilfsbereitschaft aus Deutschland. Das ist nicht ein Gegeneinander, sondern es ist beides nötig: Humanität und tragfähige Lösungen – und die bedeuten europäische Lösungen.
Kaess: Wenn diese Kinder nach Deutschland geholt werden oder ein Teil dieser Kinder, ist das nicht ein ganz starker Anreiz, Minderjährige allein auf die Flucht zu schicken?
Castellucci: Ich finde, das ist die falsche Frage. Erst mal ist da Not. Und wenn Not ist, ist die erste Frage, dass man da helfen muss. Das sagt uns hoffentlich auch das Fest, was wir dann heute Abend wieder feiern. Das Zweite ist: Niemand geht freiwillig einfach mal so da weg, wo er herkommt oder wo sie herkommt. Kann sich ja jeder, der auch jetzt zuhört, mal selber an sich überprüfen, was es eigentlich erfordern würde, alles zurückzulassen, was man hat, alles zurückzulassen, was man liebt. Und erst im dritten Schritt muss man schauen, dass man hier keine Kommunikation aufbaut über soziale Medien, wo noch irgendwelche Geschäftemacher dazwischen sind, die den Leuten irgendetwas versprechen, hier sei es alles ganz einfach, hier könne man ganz einfach ankommen und so weiter. Was dann den Leuten suggeriert in den Herkunftsländern oder in den fürchterlichen Zuständen in manchen Transitländern, sie müssten sich nur auf den Weg machen und dann würden sie es hier schon schaffen. Hier müssen wir natürlich darauf achten, dass die Kommunikation auch eine ehrliche ist und dass es überall Beratung auch für die Menschen auf den Wegen gibt, die ihnen ungefähr eine Orientierung geben können, welche Möglichkeiten sie haben und welche Chancen sie haben.
Kaess: Die Bundesregierung sagt ja auch, die Situation in Griechenland ist nicht tragbar, aber anders als bei der Seerettung bestehe keine unmittelbare Lebensgefahr. Ist das für Sie kein schlagendes Argument, zu sagen, also wir holen diese Kinder nicht zwingenderweise hierher?
Castellucci: Also der niedersächsische Innenminister Pistorius war ja auch vor Ort, praktisch stellvertretend für die SPD, es bringt ja auch nichts, wenn man da einen Politiktourismus dann hin macht. Und er kommt erschüttert zurück. Wir haben einen Brief von Ärzte ohne Grenzen. Ich glaube tatsächlich – ich bin mit unseren Kollegen, die dort Rechtsberatung machen und die dort humanitär helfen oder auch mit unseren Kollegen von der Friedrich-Ebert-Stiftung in engem Kontakt –, die Zustände sind fürchterlich und da muss geholfen werden. Da gibt es gar kein Vertun. Und gleichzeitig müssen wir daran arbeiten, dass es eben eine Lösung gibt da unten, dass es nicht immer wieder so ist oder sogar immer schlimmer wird. Diese Lösung kann es geben. Wir haben im zweiten Halbjahr die deutsche Ratspräsidentschaft in Europa, da muss es einen neuen Anlauf für das gemeinsame europäische Asylsystem geben, damit solche Zustände, wie wir sie jetzt in Griechenland, aber in Wahrheit ja auch an vielen, vielen anderen Orten in Europa und natürlich um Europa herum haben, dass die abgestellt werden oder zumindest gelindert werden.
"Eine logistische und administrative Herausforderung"
Kaess: Bundesentwicklungsminister Gerd Müller von der CSU, der hat noch mal einen anderen Aspekt in die Debatte eingebracht. Er sagt, er verstehe die Hilflosigkeit der griechischen und europäischen Behörden nicht. Er sagt, in afrikanischen Flüchtlingscamps werde gemeinsam mit den Flüchtlings- und Kinderhilfswerken der Vereinten Nationen UNHCR und UNICEF schneller und effektiver geholfen. Wäre es nicht tatsächlich besser, den Druck auf die griechischen Behörden hier zu erhöhen, anstatt zu sagen, wir entlasten jetzt und dann sind die wieder aus der Verantwortung?
Castellucci: Ja, also das kann man verstehen, was Herr Müller äußert. Gleichzeitig: In Druck aufbauen Richtung Griechenland ist Deutschland eigentlich sehr gut nach der Krise. Deshalb ist Griechenland praktisch von Herrn Schäuble beinah aus der Europäischen Union und aus dem Euro rausgeschmissen worden. Stellen wir uns mal diese Zustände dann heute vor, die dann herrschen würden. Also die haben tatsächlich große eigene Sorgen. Und es ist eine logistische und administrative Herausforderung, das gut hinzubekommen, wenn die Zahlen wieder steigen, wie das jetzt seit einigen Monaten im Osten des Mittelmeeres in der Ägäis eben der Fall ist. Ich finde, dass Schuldzuweisungen oder erhobene Zeigefinger uns nicht helfen. Mein Vorschlag ist, dass es im Rahmen eines gemeinsamen europäischen Asylsystems auch gemeinsam verantwortete Asylzentren gibt, dass wir auf diesen Inseln oder wo immer die Menschen ankommen europäisch getragene Institutionen haben, die die Asylverfahren schnell, fair, rechtsstaatlich einwandfrei durchführen. Sodass wir dann sehen können, wer ist schutzbedürftig und wer nicht, und dass wir dann die Schutzbedürftigen in Europa verteilen an diejenigen Mitgliedsstaaten, die bereit sind, sich an so einem Verteilmechanismus zu beteiligen.
Kaess: Und wo ist da die Grenze? Denn es steht ja auch die Frage in dieser Debatte im Raum: Was ist mit den Kindern in türkischen, jordanischen oder lybischen Lagern?
Castellucci: Richtig, das ist ja auch das, was Herr Seehofer sagt, wenn wir anfangen, dann gibt es kein Ende, und das ist auch so. Ich muss auch sagen, das Verständnis, was wir vorhin hörten von Weihnachten, jetzt an Weihnachten müsse man ja mal helfen, das ist nicht mein Verständnis von Weihnachten. Weihnachten heißt für mich, dass man immer versuchen muss, zu tun, was … etwas zu verbessern an diesen Situationen. Und wir haben jetzt, angeregt durch den Vorstoß von Herrn Habeck, eine Diskussion über griechische Inseln, aber wenn man die Augen aufmacht – und wenn die Medien nicht immer nur hinterher berichten würden, wenn so etwas geäußert wird und dann das Spotlight, das Schlaglicht auf diese eine Situation setzt, sondern wenn wir das menschlich schaffen würden, alles im Blick zu haben –, dann würden wir sehen, was unsere eigentlichen Aufgaben sind, aber vielleicht auch verzweifeln. Also packen wir da an, wo es auch bei uns vor der Haustür ist, wo wir was tun können. Das ist in Europa. Deswegen würde ich sagen, unsere Werte geben uns doch auf, dass wir für ordentliche Verhältnisse sorgen. Und die Kinder, die zu den Schwächsten gehören, für die muss es schnell eine Lösung geben, und da bitte ich alle, die etwas dafür tun können, sich dafür auch mit aller Kraft einzusetzen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.