"Heimspiel"

Rezensiert von Rainer Moritz · 27.05.2005
"Eine Familiengeschichte, sonst nichts" will, so scheint es, die Berlinerin Ines Geipel in ihrem neuen Buch erzählen, und bald zeigt sich, dass es kein Album heiterer, unbeschwerter Bilder ist, das da aufgeblättert wird. Unverständnis, Einsamkeit, Sprachstörungen, Gewalt, Missbrauch - mit diesen Vokabeln ließen sich die Fotos beschriften, die Ines Geipels Hauptfigur durch das Kaleidoskop der Erinnerung betrachtet.
Auslöser dieses Rückblicks ist ihre Flucht aus der DDR in den Westen. Ende August 1989 setzt sich die Erzählerin in einen Zug nach Ungarn; im Grenzort Kóphaza steigt sie aus und schlägt sich über die grüne Grenze nach Österreich durch: "Ich will nur eins: Ich will gehen. Um mein Leben zu leben." Die angstbesetzte Zugfahrt lässt Orte ihrer Vergangenheit aufsteigen, Orte, die - wie Budapest - mit beglückenden Ferienaufenthalten bei ihrer Freundin Szusza besetzt sind oder - wie Dresden - an zwiespältig besetzte Regionen gemahnen, "wo das Sehen zur Erinnerung wird", zwangsläufig.

Ines Geipel ist eine vielseitige, unkonventionelle Autorin. Als ehemalige Weltklasse-Sprinterin und -Weitspringerin beschrieb sie das Zwangsdoping des DDR-Sportapparats; das Schulmassaker in Erfurt beleuchtete sie in ihrer heftig diskutierten Recherche "Für heute reicht's", und über die Lyrikerin Inge Müller veröffentlichte sie eine eindrückliche Biografie, die jeden Germanistenjargon meidet. Mit "Heimspiel" greift sie nun auf ihre belletristischen Anfänge - "Das Heft" von 1999 - zurück und beweist von der ersten Seite an, welch brillante Prosa sie zu schreiben vermag.

Sprachmächtig kreist sie Szene für Szene das ein, was das Innenleben ihrer Protagonistin ausmacht. Was hielt den Bund ihrer Eltern zusammen? Die Duldsamkeit der Mutter, dieser "kleinen, stillen Frau", die selbst nach groben Gewaltexzessen ihres Mannes in eingeübte "Küchen-Beiläufigkeit" verfällt? Der Schrecken soll, ja muss verschwiegen werden, so wie die Eltern ihr ganzes zurückliegendes Leben zu verbannen suchten: "Die beiden haben ihre Anfänge in Pappkisten verpackt und auf den Dachboden getragen."

Dennoch ist "Heimspiel" keine der wohlfeilen Vater-Mutter-Heimzahlungen, wie sie seit den siebziger Jahren zuhauf im deutschsprachigen Raum zu Markte getragen wurden. Die Erzählerin weiß um das "Geflecht jener namenlosen, intimen Verbindung, die man Liebe, Zuhausesein, ach, ich weiß nicht was, nennt". Das Bild der Mutter, einer gelernten Schriftsetzerin, fächert sich vielschichtig auf, und wenn die "verwartete, stillgestellte Zeit mit der kleinen Frau zu Hause am Küchentisch" vergegenwärtigt wird, dann bleibt Trauer darüber spürbar, dass Mutter und Tochter, dieses notorisch "schwierige Kind", einander nie ganz nahe kamen. Und selbst der gewalttätige Vater, dem die Aufstiegssehnsucht eine Agentenlaufbahn mit Westreisen bescherte, bleibt Teil des Familienrahmens, gehört in dieses "Heimspiel", das nicht mit einem ungetrübten Sieg enden wird.

"Heimspiel" ist ein Roman, der eine eigene Sprache gefunden hat und der die Drangsalierungen durch das DDR-System nicht plakativ beschreibt, sondern geduldig in der Psyche des Kindes, der Jugendlichen und dann der Studentin und Sportlerin spiegelt. Landschafts- und Stadtbilder werden aufgerufen, ohne etwas beweisen zu müssen; Leitmotive strukturieren das Erzählte unaufdringlich. Gerade einmal 200 Seiten umfasst dieser Roman, und am Ende will es scheinen, als sei es gerade dieser Mangel an Geschwätzigkeit, der ihm seine Strahlkraft verleiht.