Heilkräftige Plaudereien

Von Maike Albath · 12.09.2006
Wer sind wir? Eine Frage, die allein durch die Existenz des Fremden unmerklich gestellt wird. Gianni Celatis Roman "Fata Morgana" erzählt von einem geheimnisvollen Wüstenvolk, von halluzinatorischen Rasereien und Kopulationsriten sowie der strikten Ablehnung "der langweiligen Illusion der Identität".
"Fata Morgana" ist ein geheimnisvolles Buch. Auf den ersten Blick kommt es daher wie ein ethnografischer Roman. In sechzehn Kapiteln, die dem Jahresrhythmus folgen und wiederum in zahlreiche Unterkapitel gegliedert sind, erzählt der italienische Schriftsteller Gianni Celati von dem afrikanischen Wüstenvolk der Gamuna.

Die Gamuna leben in einem nicht näher benannten Gebiet zwischen einer Wüste und einem Basaltmassiv. Ihre Hauptstadt heißt Gamuna Valley und scheint vor langer Zeit von kolonialen Herrschern der Gegend bewohnt gewesen zu sein. Inzwischen ist sie halb zerfallen, und die Gamuna hausen in den mit Schutt übersäten Wohnungen, ohne dem Zerfall Einhalt zu gebieten. Jede Form von Geschäftigkeit wird als Sünde empfunden.

Die Gamunamänner haben fadenförmige Körper, einen ovalen Kopf, einen schwankenden Gang und neigen zur Schwermut. Die Frauen sind üppig und schön und bringen die Männer mit ihren wilden Blicken um den Verstand. Ihren Visionen, zu denen die Fata Morgana ebenso gehört wie ihre Träume, gestehen sie eine besondere Bedeutung zu. Nach ihrer Auffassung handelt es sich um Zaubereien, bei denen sich die Seele verirrt und aus dem Körper herausgeschleudert wird. Sie sind wichtiger als alles, was sich in der Wirklichkeit abspielt.

Um die Nöte des Tages zu vertreiben, pflegen die Männer der Gamuna eine spezielle Gewohnheit: Sie treffen sich nachts und geben sich den "heilkräftigen Plaudereien" hin, mit denen sie böse Gedanken zu beschwichtigen suchen. Die Eigenarten der Gamuna, ihre Physiognomien, Stammesriten, Herkunftslegenden, Ernährungsgewohnheiten, Ehe- und Familienstrukturen, ihre sozialen Umgangsformen und der Charakter ihrer Sprache werden uns von einem Ich-Erzähler dargeboten, dessen Freund einer der wenigen Ausländer war, der zu den Gamuna vordringen konnte.

Außer jenem lebenslustigen Victor Astafali, einem alten Bekannten aus Studientagen in Cambridge, hielten sich ein argentinischer Pilot namens Bonetti und die vietnamesische Missionsschwester Tran bei den Gamuna auf. Von allen dreien - so wird uns zumindest suggeriert - liest der Erzähler während langer Wintermonate in der Normandie Aufzeichnungen und bemüht sich, das Ganze in Worte zu fassen. Alles ist in ein Licht des Ungefähren getaucht.

"Fata Morgana" zählt zum Genre der fantastischen Literatur. Celati - der Jonathan Swifts "Gulliver" ins Italienische übersetzte und sich mit den Ursprüngen des phantastischen Erzählens in der europäischen Literatur beschäftigte - knüpft mit seinem Roman an die Tradition der großen Gesellschaftsutopien an und münzt sie für seine Zwecke um. Auch Italo Calvinos "Unsichtbare Städte", auf das er sich über die Kapitelstruktur formal bezieht, spielt mit hinein.

Die Gamuna sind ein erfundenes Volk - gleichzeitig weisen sie zahlreiche Eigenschaften auf, die Tendenzen moderner Gesellschaften karikieren. Die Abenteuerlust der Leser zu befriedigen und ihnen einen unterhaltsamen Ausflug in die Fremde zu liefern, ist nicht Celatis Ziel. Das Andere ist immer Ursprung von Angst und Verunsicherung: Wer sind wir? - ist die Frage, die allein durch die Existenz des Fremden unmerklich mit gestellt wird.

Celati imitiert den Duktus der Anthropologen und unterläuft ihn im selben Atemzug. Dass die Gamuna mehr den Visionen als dem realen Leben verhaftet sind, macht sie zu Schriftstellern, die aber nicht schreiben.

"Fata Morgana" handelt zugleich von den Rändern des Erzählens und leuchtet die Grenzen aus: zwar blitzen Figuren auf, und Astafali ist auf seine Weise ein Held, aber die Geschichten verfestigen sich höchstens zu Episoden - Handlungsstränge existieren nicht. Schließlich ist das Erzählen einer Geschichte immer auch ein Versuch, der Existenz Kohärenz zu verleihen und sie damit erträglich zu machen.

Gianni Celati: Fata Morgana
Übersetzt von Marianne Schneider
Klaus Wagenbach Verlag, 2006
221 Seiten, 19,50 Euro