Heiliger Krieg auf der Krim

Von Ulrich Baron · 15.01.2012
Im Krimkrieg von 1853 bis 1856 starben fast eine Million Soldaten. Eine grausame Bilanz, die nur durch die Entwicklung eines neuen Systems medzinischer Versorgung abgemildert wurde, woran die Krankenschwester Florence Nightingale maßgeblich beteiligt war. Vom Krieg selbst wusste man bisher wenig. Der britische Historiker Orlando Figes will Abhilfe schaffen.
Im Krimkrieg von 1853 bis 1856 schlugen Briten, Franzosen und Osmanen, also Anglikaner, Katholiken und Muslime gemeinsam auf russisch-orthodoxe Christen ein. Auf einer Halbinsel im Schwarzen Meer starben annähernd eine Million Soldaten, doch die wissenschaftliche Aufarbeitung hat nach Meinung des Historikers Orlando Figes bislang in schlechten Händen gelegen:

"Lange Zeit von den Wissenschaftlern als ernsthafte Thematik vernachlässigt und häufig verspottet, ist der Krimkrieg überwiegend britischen Militärhistorikern überlassen worden, also in vielen Fällen laienhaften Enthusiasten, die immer wieder die gleichen Geschichten (die Attacke der Leichten Brigade, die Pfuscharbeit der englischen Befehlshaber, Florence Nightingale) nacherzählen."

Auch der Russland-Experte Figes kommt um diese Geschichten nicht herum, doch er stellt dieses mörderische Vorspiel der Grabenkämpfe des Ersten Weltkriegs unter Einbeziehung russischer und türkischer Quellen in einen breiten Rahmen. Alle Parteien hätten den Konflikt als "Heiligen Krieg", als "Kreuzzug gegen die orthodoxe Ketzerei" oder als "Jihad", gesehen und gemeint, nicht nur das Recht, sondern auch ihren Gott hinter sich zu haben.

Dafür gab es profane Ursachen. Hatte die Türkenfurcht die Christen einst vereint, so hatte sich der Angstgegner längst in einen kranken Mann am Bosporus verwandelt. Derweil befand sich das Zarenreich auf Expansionskurs. Mit der Krim hatte es die Grundlage für Marinebasen am Schwarzen Meer gewonnen. Damit lag ein altes Ziel greifbar nahe:

"Nach der Gründungsideologie des zaristischen Staates, der im 19. Jahrhundert durch den russischen Nationalismus an zusätzlicher Kraft gewann, war Moskau die letzte verbleibende Hauptstadt der Orthodoxie, das "dritte Rom", nachdem Konstantinopel, das Zentrum von Byzanz, 1453 von den Türken erobert worden war. Dieser Ideologie zufolge gehörte es zur göttlichen Mission Russlands die Rechtgläubigen vom islamischen Imperium der Osmanen zu befreien und Konstantinopel als Sitz des östlichen Christentums wiederherzustellen."

Solche "Befreiung" hätte das Territorial- und Kräfteverhältnis in einem weder für Frankreich und England noch für das Habsburgerreich erträglichem Ausmaß zu Gunsten Russlands verändert. So fanden besonders in England die Stimmen turkophiler Autoren Gehör, die der Hohen Pforte mit liberalen Reformen aufhelfen und russischen Expansionsgelüsten Paroli bieten wollten. Dabei akzentuiert Figes die Rolle der Medien:

"Dies war ein Krieg – der erste in der Geschichte -, der durch den Druck der Presse und der öffentlichen Meinung herbeigeführt wurde. Da die Entwicklung der Eisenbahnen in den 1840er und 1850er Jahren die Entstehung einer nationalen Presse ermöglicht hatte, wurde die öffentliche Meinung zu einem mächtigen Faktor in der Politik, der möglicherweise den Einfluss des Parlaments und des Kabinetts selbst in den Schatten stellte."

Sprichwörtlich wurde der Leserbrief an die "Times", der etwa die katastrophale Versorgungslage in der britischen Armee und die Unfähigkeit ihrer Führung anprangerte. So wurden Reformen des Verpflegungs- und Lazarettwesens erzwungen, die man vor allem mit Florence Nightingale verbindet. Für Figes aber war der russische Arzt Nikolai Pirogow mindesten ebenso bedeutend, denn er führte das System der Triage ein. Verwundete wurden in hoffnungslose Fälle, Leichtverletzte und durch rasche Behandlung noch zu rettende Schwerverletzte aufgeteilt. Das rettete manches Leben, während die Sterbeziffer in Nightingale’s Spitälern bisweilen auf 52 Prozent gestiegen sei.

Figes liefert viele Beispiele, wie der Krimkrieg zur Modernisierung der Kriegsführung beigetragen hat. Eisenbahn, Telegraph und Dampfschiffe beschleunigten Transport und Kommunikation. Minié-Geschosse bescherten Vorderladern enorme Steigerungen von Reichweite und Zerstörungskraft. Doch am Ende waren Russlands Expansionsphantasien zwar gedämpft, aber nicht beseitigt worden.
Für die Türken markierte der Krimkrieg einen weiteren "Markstein im Verfall des Reiches", schreibt Figes und zitiert eine türkische Militärgeschichte:

"Während des Krimkriegs hatte die Türkei fast keine wirklichen Freunde in der Außenwelt. Diejenigen, die unsere Freunde zu sein schienen, waren in Wirklichkeit keine… In diesem Krieg verlor die Türkei ihre Schatzkasse. Zum ersten Mal verschuldete sie sich in Europa."

So war der kranke Mann auch noch arm geworden, und Verfall gab es nicht nur am Bosporus. Den Völkern war die Bedeutung von religiösen, ethnischen und nationalen Differenzen drastisch vor Augen geführt worden. Dem Krieg auf der Krim folgten ethnische Säuberungen, bei denen zahllose Menschen ihr Leben und Millionen ihre Heimat verloren. Statt einen Konflikt zu lösen, war die Grundlage für weitere gelegt worden. Wer also nach den Ursachen jener Konfrontationen sucht, die Europa und die Welt im 20. und 21. Jahrhundert erschüttert haben, findet in Figes Buch eine verblüffend reiche Quelle. Und nicht nur Enthusiasten der Kriegshistoriographie können hier einen glänzenden Erzähler entdecken.
Lesart - Orlando Figes: "Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug"
Lesart - Orlando Figes: "Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug"© Berlin Verlag
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