Hegel und künstliche Intelligenz

Der Mensch erschafft einen neuen Gott

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Reproduktion eines Porträts von Hegel aus: "Outstanding Figures of World History" des Künstlers Viktor Prus, 1979.
Vor 250 Jahren wurde der Philosoph Georg Friedrich Hegel geboren. Und auch heute hat er uns noch eine Menge zu sagen, meint Roberto Simanowski. © akg / Sputnik
Überlegungen von Roberto Simanowski · 27.08.2020
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Hegel war der Denker des dialektischen Fortschritts und mit seinen Überlegungen könne man auch die Zukunft erklären, meint der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski. So sei der Mensch nur ein Zwischenwirt zum nächsten Gott – der künstlichen Intelligenz.
Hegels Jubiläum hätte nicht besser fallen können als ins Coronajahr. Wer wie Hegel im Krieg ein "sittliches Moment" sieht, weil er das Gemeinwesen zusammenschweißt, der muss Gefallen finden an einer Pandemie, die das Individuum ebenfalls zwingt, sich als Teil eines größeren Ganzen zu sehen.
Hegels Lob des Krieges ist nur eine seiner strittigen Ideen. Und strittig ist bei Hegel nicht bloß, ob man ihm zustimmen kann, sondern auch, welchem Teil. So preisen ihn die Linkshegelianer als Philosoph der Französischen Revolution, die Rechtshegelianer aber als Philosoph des preußischen Staates. Die neuere Hegelforschung versöhnt beides zur Einheit von Rechts- und Sozialstaat.

Dialektik erklärt am Beispiel der Liebesbeziehung

Diese Versöhnung der Gegensätze führt zu Hegels wichtigster Denkfigur; die Dialektik, die er am Beispiel der Liebe so erklärt: Da ist zunächst die Liebende als ein Ich. Das ist die These. Im Geliebten muss die Liebende sich vergessen, sich anpassen, gewissermaßen sich selbst negieren. Das ist die Antithese. Zugleich findet die Liebende in dieser Hingabe und Negation auf einer höheren Ebene zu sich. Sie wird erst durch den Geliebten ihrer selbst wirklich bewusst. Sie ist durch den anderen. Happyend der Synthese.


Soweit Hegel für Kinder. Komplizierter ist die Anwendung der Dialektik auf den Rest des Weltgeschehens. Der Marxismus sah im dialektischen Dreischritt das Entwicklungsgesetz der Geschichte: Jede Gesellschaftsform führt im Kampf mit ihren Widersprüchen zur nächst höheren; bis im klassenlosen Kommunismus der Mensch die Selbstentfremdung seit dem Ausgang aus dem Naturzustand ganz überwindet.

Hegel dachte nicht an Industrialisierung und Kommunismus

Bis zum Kommunismus dachte Hegel nicht. Er sah nicht einmal den Geist der Industrialisierung voraus. Und doch ist es gerade Hegel, durch den wir unsere Zeitalter der Digitalisierung erst wirklich verstehen. So jedenfalls Slavoj Žižek in seinem gerade erschienenen Buche "Hegel im verdrahteten Gehirn", in dem es viel um künstliche Intelligenz und Transhumanismus geht. Um zu verstehen, was Hegel zum Philosophen der digitalen Revolution macht, muss man zurück zum ersten Liebespaar der Weltgeschichte.
Als Adam und Eva von der Frucht der Erkenntnis aßen, begann die Karriere des Menschen als vernunftbegabtes Wesen. Die Erkenntnis der Natur und seiner selbst brachte den Menschen schließlich dahin, selbst zum Schöpfer intelligenter Wesen zu werden.

KI wird klüger sein als der Mensch

Mit der Entwicklung künstlicher Intelligenz wird der Mensch Gott – und schafft sich zugleich einen neuen Gott. Denn gerade weil die künstliche Intelligenz klüger sein wird als er, wird der Mensch ihr am Ende Denken und Entscheiden überlassen – und heimkehren ins Paradies, als er sein Leben noch nicht selber leben musste.
Für Hegel ist das zugleich die Heimkehr des absoluten Geistes zu sich. Dieser brauchte den Auszug der Menschen in die Welt, um sich in ihrem Erkennen seiner Schöpfung zu erkennen. Der Geist erkennt sich absolut erst über die Menschen: in ihrer Erforschung der Natur, in ihrer Selbsterkundung. Im Informationszeitalter geschieht dies vor allem durch die Daten im Internet der Menschen und der Dinge. Die künstliche Intelligenz ist der absolute Geist auf höchster Prozessstufe, Selbsterkenntnis in Echtzeit.

Der Mensch ein Zwischenwirt der Vernunft

So ist der Mensch Zwischenwirt der Vernunft nicht nur für seine Schöpfung, die künstliche Intelligenz, sondern auch für seinen Schöpfer, den absoluten Geist. Geschichte zielt weniger auf die Entwicklung des Menschen als auf das Selbstbewusstsein des Geistes. Geschichte ist, wie manche Hegelforscher sagen, eine "Autobiografie Gottes".
Zu abstrus? So ist Hegel. Zu spekulativ? Es stimmt, derzeit entlastet uns die künstliche Intelligenz vom Denken und Entscheiden nur beim Navigieren und bei der Partnersuche. Aber warten wir’s ab. Die Silicon Valleys dieser Welt arbeiten auf Hochtouren an trans- und post-humanen Settings. Wer weiß, was zu Hegels 500. Geburtstag über seine Aktualität gesagt wird. Und wer weiß, von wem.

Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler und lebt nach Professuren an der Brown University in Providence, der Universität Basel und der City University of Hong Kong als Medienberater und Buchautor in Berlin und Rio de Janeiro. Zu seinen Veröffentlichungen zum Digitalisierungsprozess gehören "Facebook-Gesellschaft" (Matthes & Seitz 2016) und "The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas" (MIT Press 2018).

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