Hauptsache, der Darsteller läuft nicht gegen die Löffel

Von Uwe Friedrich · 24.03.2013
Allzu geleckt, allzu unverbindlich, so wirkt Richard von der Thannens "Hänsel und Gretel". Eine Inflation szenischer Kinkerlitzchen findet auf der Bühne statt, was nett anzusehen ist, aber garantiert ungefährlich. Glücklicherweise gilt für die musikalische Inszenierung jedoch etwas anderes.
Reinhard von der Thannen schaltet das Licht an im deutschen Märchenwald. Hier herrscht kein Schummerdüster, kein geheimnisvoller Dunst oder verführerischer Duft. Stattdessen ist alles klar und hell und sauber.

Die ärmliche Stube des Besenbinders: Ein weißer Tisch und zwei Stühle auf dem weiten, weißen Rund der Drehbühne. Das Knusperhaus: Eine klinisch reine Torte mit Dauerlutschern. Der gefährliche und geheimnisvolle Wald: Ein Griff in die Besteckschublade, selbstverständlich rostfrei. Mit dem Messer-, Gabel-, Löffelwald ist der Bühnenbildner von Thannen immerhin auf der richtigen Fährte.

Schließlich geht es in Engelbert Humperdincks abgründiger Märchenoper immer wieder ums Essen. Das Essen, das die spielenden Kinder nicht haben, wenn sie sich mit Singen und Tanzen vom Hunger ablenken, bis die wütende Mutter sie in den Wald jagt.

Das Essen, das ihnen die Hexe im Knusperhäuschen verspricht und schließlich sollen sie selber gegessen werden. Essen und sexuelle Lust sind ebenfalls nicht nur tiefenpsychologisch eng miteinander verbunden und man muss nicht Sigmund Freud bemühen, um zu bemerken, dass die Hexe wohl nicht nur Hänsels kleine Finger meint, wenn sie sich beschwert, dass seine körperliche Ausstattung zur Befriedigung ihrer Gelüste kaum ausreichend sei.

Ursula Hesse von den Steinen ist eine ideale Hexe. Sie verfügt über die unbequem exponierten Töne, die der Komponist Engelbert Humperdinck ihr verordnet hat, sie kann die Gefährlichkeit der frustrierten Alten in ihrem Gesang zeigen und lässt hören, dass für sie Verzehr und Verkehr zusammengehören.

Aber Regisseur und Ausstatter Reinhard von der Thannen lässt sie bloß als paillettenglitzernde Musicalhexe hin und herwackeln, ganz nett anzusehen und garantiert ungefährlich. Das gilt für die gesamte Inszenierung. Hier wird Bildidee an Bildidee gehäkelt, allerdings ohne dass sich ein überzeugendes Muster ergibt. Allzu geleckt sieht das alles aus, zu oberflächenverliebt und unverbindlich.

Zum Auftritt des Vaters kippt eine große Einkaufstüte auf die Bühne, mit H&G-Logo, das an eine große Textildiscounterkette erinnert, daraus kommt der beschwipste Mann auf einem Dreirad hereingefahren.

Außerdem gibt es Konfetti und Hasenmasken, Marsh Mallows und leuchtende Krücken, Theaterschnee und Luftballons. Nur eine Haltung zu den Problemen der Oper, die gibt es nicht. Was hält denn Reinhard von der Thannen von dem wilhelminischen Gott- und damit Obrigkeitsvertrauen in dieser Oper? Sollen wir den Religionskitsch der Engelspantomime wirklich ernst nehmen? Was bedeutet es, wenn zwei Kinder die Hexe ermorden und vor allem: was bedeutet es, wenn sie, wie in dieser Inszenierung, wundersamerweise doch überlebt? Sind die Eltern herzlos oder bloß verzweifelt, wenn sie ihre Kinder in den Wald schicken und was passiert Hänsel und Gretel dort?

Lauter Fragen, auf die von der Thannen keine Antwort geben kann oder will. Symptomatisch für den pauschalen Umgang mit der Partitur mag stehen, dass zu "Ein Männlein steht im Walde" ein Fliegenpilzkleindarsteller durch den Besteckwald läuft. Das sieht zwar ganz niedlich aus, aber im Lied ist entgegen der weit verbreiteten Meinung die Rede von einer Hagebutte. Das hat an der Komischen Oper offenbar niemand bemerkt, Hauptsache, der Darsteller läuft nicht gegen die Löffel.

Wirklich überraschend ist bei dem ganzen Ausstattungsaufwand jedoch das Fehlen jeglicher Theaterlust an der Verkleidung und am Effekt. Da wird mal am Schneezug gefummelt oder die bunte Beleuchtung angeworfen, legen sich die Kinder unter ein Leichentuch oder kämpfen mit den Schubladen des Küchentischs. In der Inflation der szenischen Kinkerlitzchen hinterlässt jedoch keine der unkonzentrierten Aktionen einen bleibenden Eindruck.

Glücklicherweise bewegt sich die musikalische Umsetzung auf einem ungleich höheren Niveau. Die junge estnische Kapellmeisterin Kristiina Poska lässt den spätromantischen Orchesterapparat des Wagnerschülers Humperdinck mächtig aufrauschen, auch wenn sie sich gelegentlich etwas zu sehr der Klangfülle hingibt. Dass sie auch leiser können, beweisen die Musiker beim Abendsegen, der auch die Pianonuancen auskostet.

Dazu lässt allerdings ein Schwanenballett die Flügel flattern, als wollte Reinhard von der Thannen nach seinen Bayreuther "Lohengrin"-Ratten beweisen, dass er auch Großgeflügel kann, unter Hans Neuenfels aber nicht durfte.

Theresa Kronthaler und Maureen McKay bewegen sich als Hänsel und Gretel mühelos zwischen pseudonaivem Volksliedton und großer musikalischer Geste, Tom Erik Lie und Christiane Oertel sind ein überzeugend vorwiegend komödiantisches Elternpaar und die Hexe der Ursula Hesse von den Steinen kann man gar nicht oft genug loben für ihre differenzierte musikalische Gestaltung der Rolle, die ihr der Regisseur szenisch verwehrt hat.

Den Kindern wird’s schon gefallen, wenn sie von ihren Eltern in dieses Schauermärchen mitgenommen werden, denn es gibt viel zu sehen. Wer sich aber mehr erhofft von Humperdincks Märchenoper "Hänsel und Gretel" als das Völlegefühl nach zu vielen Süßigkeiten, der wird unzufrieden nach Hause gehen.
Mehr zum Thema