Hatün Sürücü und die Folgen

Kämpfen für ein selbstbestimmtes Leben

Grabstein von Hatün Sürücü mit Geburtsdatum 17.1.1982 und Todestag 7.2.2005.
Grabstelle von Hatün Sürücü in Berlin-Gatow im Jahr 2007. © dpa / Jens Kalaene
Von Kemal Hür · 26.01.2016
Vor elf Jahren wurde die Deutsch-Kurdin Hatün Sürücü in Berlin von ihrem Bruder ermordet. Von "Ehrenmord" war die Rede. Seitdem gibt es immer noch Zwangsheiraten und Ehrenmorde, aber in Berlin kümmert sich ein Verein um gefährdete Frauen und hilft beim Schulabschluss.
Nesrin Tekin: "TIO, Qualifizierungsprojekt, Tekin. Guten Tag... - Ja, was kann ich für Sie tun? ... Sie möchten etwas über den Schulabschluss erfahren..."
Nesrin Tekin freut sich über jede Anfrage. Im Qualifizierungsprojekt des Vereins "Treff- und Informationsort", kurz TIO, können Frauen mit Migrationshintergrund ihren Schulabschluss nachholen. Zurzeit werden 33 Frauen aus afrikanischen Ländern, Saudi Arabien und der Türkei unterrichtet.
Nesrin Tekin arbeitet seit 16 Jahren im Verein. Sie unterstützt die Frauen als Sozialpädagogin; denn viele Frauen haben Gewalt erfahren. Sie müssen neben dem Fachunterricht auch pädagogisch betreut werden.
"Sehr viele Frauen, muss ich schon sagen – leider, waren in ihrer Jugend von Zwangsheirat betroffen. Manche sind immer noch in der Ehe. Manche konnten was in der Ehe bewirken, verändern, weil sie hartnäckig geblieben sind. Und manche mussten eben fliehen."
TIO wurde 1978 als Beratungsstelle für türkische Frauen gegründet. Heute richten sich die Angebote an alle Frauen mit Migrationshintergrund.
Tekin erinnert sich an viele Frauen, die zwangsverheiratet wurden. Zum Beispiel an eine junge Türkischstämmige, die die Gewalt durch ihren drogenabhängigen Mann nicht aushielt und von Nordrhein-Westfalen nach Berlin flüchtete.
"Sie erzählte mir, dass er sie tagelang in ein dunkles Zimmer eingeschlossen hat und wenn er total 'high' war, ihr einen Apfel auf den Kopf getan hat und mit einer Schusspistole oder einem Messer danach geworfen hat. Und die Kinder haben das miterlebt."
Vorstellungen von "Ehre" haben sich kaum verändert
Die Frau konnte trotz ihres Traumas einen Schulabschluss erreichen und eine Ausbildung beginnen. Für Frauen, die Gewalt erfahren haben oder sich von einer Zwangsehe befreien konnten, bedeute ein Schulabschluss mehr als nur ein Zeugnis. Er stärke sie in ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Unabhängigkeit. Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben.
In einem Raum des Vereins sitzen acht junge Frauen im Biologie-Unterricht. Sieben Schülerinnen sind Musliminnen, drei von ihnen tragen ein Kopftuch. In der Pause unterhält sich die Klasse über Zwangsehen und Gewalt. Ein Name, der in Deutschland fast als Synonym für Zwangsehen und sogenannte Ehrenmorde steht, ist den meisten nicht bekannt: Hatun Sürücü. Eine kurdischstämmige 20-jährige Schülerin erinnert sich aber an den Mord.
"Sie wurde vor zehn Jahren von ihrem Bruder umgebracht. Es war so ein Ehrenmord, weil sie frei sein wollte, das gemacht hat, was sie machen wollte. Der Bruder wollte nicht damit leben und hat sie einfach umgebracht."
Die Deutsch-Kurdin wurde am 7. Februar 2005 in Berlin von ihrem Bruder auf offener Straße erschossen, weil sie nicht nach den archaischen Vorstellungen ihrer muslimischen Familie, sondern selbstbestimmt lebte. Niemand in der Klasse kann den Mord gutheißen. Eine der Schülerinnen hat sogar selbst eine Verwandte durch einen sogenannten Ehrenmord verloren.
Aber manche haben Vorstellungen vom Leben einer muslimischen Frau, die nicht weit entfernt sind von jenen, die Hatun Sürücüs Mörder gehabt haben muss.
"Natürlich ist es eine Schande, wenn man ein Kopftuch hat und was macht, zum Beispiel einen Freund hat. So was Ähnliches ist eine Schande für die Eltern. Weil wir sind so erzogen, so sagt unser Islam, dass wir keinen Freund haben. Wir dürfen nicht sexuelle Sachen machen und und und..."
Größere Sensibilität bei der Polizei
Die Schülerin trägt selbst ein Kopftuch. Sie würde auch ihre eigenen Töchter streng gläubig erziehen und ihnen nicht erlauben, einen Freund zu haben, sagt sie. Ein Mord, wie bei Hatun Sürücü, käme niemals in Frage, sagt sie. Aber sie würde ihre eigene Tochter bestrafen, wenn sie einen Freund hätte.
"Sie darf nicht raus. Ja halt ganz ehrlich."
– "Hausarrest."
"Ja, Hausarrest oder irgendwas."
Solche Ansichten vertreten auch ältere Kursteilnehmerinnen, sagt Nesrin Tekin. Der Mord an Hatun Sürücü habe in der Gesellschaft zwar eine Debatte ausgelöst. Aber Menschen, die nach ähnlich archaischen Werten leben wie die Familie Sürücü, würden auch weiter daran festhalten, glaubt Tekin.
"Auch wenn immer noch in manchen Köpfen die Meinung herrscht, das müsste so sein; die wissen, es ist eine gewisse Sensibilisierung in der Gesellschaft da, dass man das nicht so einfach sagen kann: 'Dann gehört sie eben ermordet.' Aber dass es immer noch solche Fälle gibt, Bedrohungen gibt, das ist leider immer noch so."
Eine große Sensibilität beobachten Tekin und ihre Kolleginnen seit dem Mord an Hatun Sürücü bei der Polizei. Die Beamten seien offensichtlich geschult und würden schnell und kompetent reagieren, wenn eine Zwangsheirat oder Bedrohung angezeigt werde.
Wie die türkische Justiz ab heute mit den Brüdern von Hatun Sürücü verfahren wird, das kann Nesrin Tekin nicht einschätzen. Aber sie ist pessimistisch.
"Dass die hier frei gelassen wurden, das verstehe ich nicht. Das habe ich auch damals nicht verstanden. Ich habe nicht immer das große Vertrauen in das türkische Rechtssystem. Ich hoffe, dass da rechtgesprochen wird, aber ich habe ehrlich gesagt meine Zweifel."
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