Hartz-IV-Sanktionen

Das Existenzminimum ist unantastbar

Blick in ein Jobcenter: im Vordergrund das Logo der Bundesagentur für Arbeit, im Hintergrund verschwommen zwei Frauen, die miteinander reden
Jobcenter: Nicht die Arbeitslosen sind unwillig, sagt Philip Kovce. © dpa / picture alliance
Von Philip Kovce · 01.10.2015
Das Existenzminimum werde mit Hartz IV nicht gesichert - durch drohenden Leistungsentzug sei es Verhandlungssache, kritisiert der Ökonom Philip Kovce. Wir sollten das Sozialrecht nicht länger als Strafrecht missbrauchen, fordert er.
Wie liberal oder sozial eine Gesellschaft ist, lässt sich daran ablesen, wie sie mit Minderheiten umgeht. Ein Beispiel, das eindrücklich zeigt, dass die Bundesrepublik sowohl auf dem liberalen als auch auf dem sozialen Auge an Sehschwäche leidet, ist die Arbeitslosenunterstützung, die auf den Namen Hartz IV hört.
Wenn von Arbeitslosen gefordert wird, nahezu jede Beschäftigung aufzunehmen, wenn ihnen außerdem unbezahlte Arbeit einfach zugewiesen werden kann, dann hat das weniger mit dem Grundrecht auf freie Berufswahl als mit Zwangsarbeit zu tun. Das Existenzminimum wird dank Hartz IV nicht gesichert, sondern durch den jederzeit drohenden Leistungsentzug zur Verhandlungssache. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte fordert deshalb von der Bundesrepublik, "die Menschenrechte in die Umsetzung des Armutsbekämpfungsprogramms einzubeziehen".
In Berlin wird das natürlich ganz anders gesehen: Was die Vereinten Nationen verurteilen, wird hier als Reform gefeiert. Anstatt sich in der Arbeitslosenunterstützung einzurichten, habe sich der Einzelne besonders zu engagieren, damit Deutschland auch in Zukunft mit blühenden Industrielandschaften aufwarten könne, so die Devise.
Liberalisierung, Privatisierung, Flexibilisierung – mit diesen und ähnlich nichtssagenden Vokabeln wurden die Hartz-Reformen in der Schröder-Ära verabschiedet. Und sie werden noch heute von all jenen begrüßt, die das deutsche Niedriglohnjobwunder bestaunen und Hartz-IV-Bezieher für dumm, faul und versoffen halten.
Maschinen übernehmen Aufgaben von Menschen
Dabei ist Hartz IV die richtige Lösung zur falschen Zeit – also falsch. Wer Arbeitslosigkeit vor einigen Jahrzehnten einer individuellen Verweigerungshaltung zusprach, mochte damit noch richtig liegen. Doch sie ist heute längst kein Luxus mehr, den sich einige Faulpelze leisten, sondern zunehmender Regelfall, wenn fleißige Maschinen Menschen entlasten.
Sämtliche wirtschaftliche Bemühungen zielen darauf ab, Menschen von der Arbeit zu befreien. Arbeitslosigkeit sollte entsprechend als modernes Phänomen gewürdigt werden. Nicht, dass es nichts zu tun gäbe! Doch was wirklich zu tun ist, lässt sich nur noch freiwillig und nicht immer entlohnt ergreifen. Weil wir jedoch keine bessere Idee haben, als den Sozialstaat über Lohnnebenkosten zu finanzieren, treiben wir die Freigestellten wieder auf den Arbeitsmarkt – und halten ihnen Arbeitsunwilligkeit als moralisches Defizit vor, wo Arbeitsnachfrage faktisch fehlt und höchstens künstlich erzeugt wird.
Wir leisten uns Mangel im Überfluss
Kurzum: Wir gefährden Existenzen, die eigentlich gesichert wären. Wir leisten uns Mangel im Überfluss. Diesen Irrsinn hat jetzt auch das Sozialgericht in Gotha erkannt – und das Bundesverfassungsgericht angerufen, die Hartz-IV-Sanktionen zu prüfen.
Doch unabhängig davon, wie die Karlsruher Richter entscheiden, sollten wir das Sozialrecht nicht länger als Strafrecht missbrauchen. Wer fördern und fordern will, der darf gerade nicht strafen. Wir haben uns also von den unsäglichen Sanktionen zu verabschieden, die scheinbar Faulenzer bessern sollen, tatsächlich jedoch Freie knechten und Fleißigen drohen, die sich den oftmals unsinnigen Forderungen der Jobcenter widersetzen.
Grundrechte lassen sich nicht kürzen. Wer auf Hartz-IV-Sanktionen nicht verzichten will, hat den Regelsatz so zu bemessen, dass auch nach Abzug der Sanktionen noch genügend Geld zum Leben bleibt. Dass wir heute nicht einmal das Existenzminimum garantieren, zeugt weder von einer liberalen noch von einer sozialen, sondern von einer ganz anderen Gesinnung: einer Gutmenschengesellschaft, die besser zu wissen meint, was für den Einzelnen richtig ist.
Das Ende der Hartz-IV-Sanktionen wäre der Beginn einer sozialliberalen Gesellschaft, das Vorspiel eines steuerfinanzierten bedingungslosen Grundeinkommens und ein wichtiger Schritt, unsere Demokratie lupenreiner zu machen.

Philip Kovce
, 1986 geboren, lebt in Berlin, forscht am Basler Philosophicum und gehört der Studienstiftung des deutschen Volkes als Stipendiat sowie dem Think Tank 30 des Club of Rome als Mitglied an. Veröffentlichungen (Auswahl): Was fehlt, wenn alles da ist? Warum das bedingungslose Grundeinkommen die richtigen Fragen stellt (mit Daniel Häni, Orell Füssli 2015); Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall. Aphorismen (Futurum Verlag 2015); Götterdämmerung. Rudolf Steiners Initialphilosophie (Edition Immanente 2014); Logisch-philosophischer Abriss. Zum Werk Michael Bockemühls (AQUINarte 2014).
Philip Kovce - 1986 in Göttingen geboren, lebt als freier Autor in Berlin. Er ist Mitbegründer des Basler Philosophicums, Mitarbeiter des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke sowie Mitglied des Think Tank 30 des Club of Rome. Veröffentlichungen (Auswahl): Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall. Aphorismen (Futurum Verlag); An die Freude. Friedrich Schiller in Briefen und Dichtungen (hrsg., AQUINarte Kunst- und Literaturpresse); Die Aufgabe der Bildung. Aussichten der Universität (hrsg. mit Birger P. Priddat, Metropolis Verlag).
Philip Kovce © Ralph Boes
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