Hartmut Binder: "Gestern abend im Café"

Kafka im Bordell

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Buchcover zu "Gestern abend im Café"
Dieser umfangreiche Band wird von niemandem mehr zu toppen sein: Hartmut Binders "Gestern abend im Café". © Deutschlandradio / Vitalis Verlag
Von Helmut Böttiger · 08.11.2021
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Er war nicht nur jener vergeistigte Autor, zu dem ihn die Nachwelt stilisierte. Franz Kafka hatte körperliche Bedürfnisse und lebte sie aus. Eine neue Materialsammlung dokumentiert seine Aufenthalte in Theatern, Cafés und Stundenhotels.
Hartmut Binder ist unter allen Kafka-Maniacs der detailversessenste und penibelste. Er hat im Lauf der Jahrzehnte auch die entlegensten Dokumente zusammengetragen, die etwas mit Kafka und seiner gesellschaftlich-politischen Umgebung zu tun haben könnten, und auffällig war immer seine unprätentiöse Darbietung der ganzen Materialienflut.
Jetzt hat er einen umfangreichen, großformatigen Band vorgelegt, der eindeutig von niemandem mehr zu toppen sein wird. "Kafkas versunkene Welt der Prager Kaffeehäuser und Nachtlokale", so der Untertitel, greift weit aus. Es ist eine umfassende Kulturgeschichte aller erdenklichen gastronomischen Lokalitäten in Prag zu Lebzeiten Kafkas und bis in die Zwischenkriegszeit hinein, reich bebildert mit Fotografien, Plakaten und Fundstücken.

Ausgehgewohnheiten einer Epoche

Kafka ist zwar nur der Ausgangspunkt dieser ausschweifenden Beschreibungen der Cafés, der Bierhäuser, Kabaretts, Varietés, Stundenhotels und Tingeltangelbühnen, aber Binder kehrt immer wieder zu seiner zentralen Figur zurück. Er hat alle Tagebuch- und Briefstellen Kafkas und von Zeitzeugen durchgeforstet, um etwas über die Ausgehgewohnheiten dieses Jahrhundertschriftstellers in Erfahrung zu bringen, und er fördert dabei viel Überraschendes zutage.
Wo die "erste sexuelle Erfahrung" Kafkas ihren Ausgangspunkt nahm, ist genauso verzeichnet wie die nachprüfbaren Aufenthalte in Bordellen und Stundenhotels. Kafkas Interesse für Varietédarbietungen wird bis in alle Einzelheiten verfolgt, so dass wie nebenbei große Essays über die Vergnügungsmodalitäten dieser Epoche entstehen. Herausragend sind etwa die langen Passagen über die Auftritte jener ostjüdischen Theatergruppe aus Lemberg, die Kafka seit 1911 in Atem hielten, vor allem auch seine Beziehung zu einer Schauspielerin namens Mania Tschissik.

Körperliche Seite ausgeklammert

Kafka war bei weitem mehr als jener mystische, vergeistigte und entkörperlichte Seher, als der er in den ersten Jahrzehnten seines Nachruhms bevorzugt gehandelt wurde. Mit zeitgenössischen Stadtplänen und Originalquellen beschwört Binder die Atmosphäre in den Etablissements herauf, die Kafka geprägt haben: allen voran das Café Arco, aber auch das Continental, das City, das Orient oder das Louvre.
Dass es in unmittelbarer Nähe der Wohnung seiner Familie auch ein "Café Kafka" gab, betrieben von einem eher unglücklichen Großonkel, passt ins Bild.

Samstagsruhe im Café

Gleichzeitig bekommt man eine Ahnung von der engen, geschlossenen Welt, in der Kafka existierte: Sämtliche seiner zentralen Lebensorte sind in einem Umkreis von wenigen Hundert Metern aufzusuchen, seine Wohnungen und die bevorzugten Lokalitäten liegen auf engstem Raum beieinander – wobei das Café vor allem die Funktion hatte, einen eigenen Platz und Ruhe abseits der beengten Wohnverhältnisse zu bieten, für Bürotätigkeiten und Verabredungen.
Aus dem Café Oriental schreibt er einmal, dies sei der "erste ruhige Platz des heutigen Samstags". Auch das lernt man aus dem neuen Binder-Buch: das Kaffeehaus war eine Institution, die mit heutigen Cafés so gut wie gar nichts zu tun hatte.

Hartmut Binder: "Gestern abend im Café. Kafkas versunkene Welt der Prager Kaffeehäuser und Nachtlokale"
Vitalis Verlag, Prag 2021
686 Seiten, 78 Euro

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