Harsvik und Skjerve: "Homo solidaricus"

Wer sich kümmert, darf sich paaren

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Das Cover des Buches "Homo solidaricus", übersetzt "der solidarische Mensch", auf pastelligem Untergrund.
Norwegische Opitimisten: Der Mensch ist besser als sein Ruf, finden die Autoren. © Deutschlandradio / Ch. Links Verlag
Von Martin Tschechne · 24.04.2021
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Der nur dem eigenen Interesse verpflichtete Homo oeconomicus ist ein Auslaufmodell, glauben die Autoren. Die beiden Norweger sammeln Belege in der Wissenschaft, von der Evolutionsbiologie bis zur Ökonomie. Ihr Befund: Die Zukunft gehört dem Gemeinsinn.
Norwegen ist das womöglich glücklichste Land der Erde – darauf wird zurückzukommen sein – und der Zackenbarsch das wohl glücklichste Tier. Weil er nämlich schlau ist und ein auskömmliches Verhältnis zur Muräne pflegt:
"Wenn sich die Beute des Zackenbarsches irgendwo versteckt, wo er sie nicht erreichen kann, schwimmt der Fisch zu der Höhle, in der die Muräne sich versteckt hält. Dort schüttelt er am Eingang sichtbar den Kopf und lockt die Muräne heraus. Sie folgt dem Barsch zum Versteck des Beutefisches, wo er erneut Zeichen mit dem Kopf gibt. Die Muräne schwimmt daraufhin in den Spalt oder den Hohlraum hinein und fängt den Fisch. Manchmal frisst sie die Beute selbst, andere Male gibt sie sie an den Barsch weiter."
Es sind solche Beispiele, Dutzende davon und aus allen Disziplinen, von der Meeresforschung bis zu den Theorien zur Weitergabe kultureller Grundbausteine, mit denen Wegard Harsvik und Ingvar Skjerve zu ihrer These gelangen: Das Zeitalter von Konkurrenz und Wettbewerb, jeder gegen jeden, steuert seinem Ende entgegen; das radikal egoistische Denken von Adam Smith bis Gordon Gekko führt geradenwegs in die Katastrophe. Die Lösungen der Zukunft liegen in Gemeinschaft, Kooperation und Solidarität. Wie beim Zackenbarsch und der Muräne.

Tu Gutes und profitiere davon

Die beiden Autoren, der eine ist PR-Berater beim norwegischen Gewerkschaftsbund und der andere ist Mitglied der Ethikkommission für Pflegeberufe und selbst Krankenpfleger –, betreten das Feld der biologischen, psychologischen und ökonomischen Modelle und Strategien als erklärte Laien. Sie dürfen sich deswegen in all der Wissenschaft bewegen, wie das glückliche Kind im Bonbonladen. Der Leser darf sich von ihrer Entdeckerfreude anstecken lassen.
Der arabische Graudrossling etwa aus der Ordnung der Sperlingsvögel bewacht die Nester seiner Artgenossen und rückt zur Belohnung auf in die Ränge derer, die sich paaren dürfen. Leguane bestrafen allzu selbstherrliches Verhalten ihrer Alphamännchen. Wölfe und Raben kooperieren zu beiderseitigem Nutzen, Bienen oder Ameisen bilden hoch differenzierte Superorganismen.
Doch Vorsicht, so relativieren Harsvik und Skjerve ihre eigene Sammlung an Kuriosa aus dem Sozialleben der Tiere, irgendwo stoßen auch die faszinierendsten Befunde der Evolutionsbiologie an ihre Grenzen:
"Man kann die Ziele der Gesellschaft nicht aus der Natur ableiten. Der Fehlschluss besteht darin, aus der Tatsache, dass etwas so ist, wie es ist, zu folgern, dass es deshalb auch so sein sollte oder gar muss. Was uns definitiv von den Tieren unterscheidet, ist unsere Fähigkeit, kollektive Geschichten zu erfinden – gemeinsame Vorstellungen, die uns zu größeren Gemeinschaften zusammenschließen, als wir das als Individuum jemals schaffen könnten."

Ein eifriger Kampf gegen längst überholte Theorien

In der Abteilung für Politik und Sozialwissenschaften wird das Spektrum breiter, die Reihe der Zeugen und Impulsgeber vielfältiger. Die Ökonomin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom wird zitiert mit ihren Modellen für eine nachhaltige Nutzung von Allgemeingütern, etwa bei den Hummerfischern von Maine. Die Autorin Ayn Rand tritt auf als Hohepriesterin eines ungezügelten Egoismus, an deren Romanfiguren Alphatiere wie Mike Pompeo oder Donald Trump ihre Vision eines wahrhaft freien, also von aller Gemeinschaft losgelösten Homo oeconomicus entwickelt haben.
Der Neo-Kapitalismus, so schreiben die Autoren, reproduziert sich wie eine selbsterfüllende Prophezeiung: "Wir laufen Gefahr, dass wir uns den Systemen anpassen, die uns als kalkulierende Opportunisten sehen."
Das ist das Grundmodell des rücksichtslosen Ichzuersts: Die anderen tun es doch auch! Harsvik und Skjerve hätten einen guten Gedanken überzeugend belegen können, hätten sie nur der eigenen Entdeckerfreude ein bisschen mehr Skepsis entgegengesetzt. So aber widerlegen sie Taylorismus und Behaviorismus mit einem Eifer, als lägen die nicht schon lange im Museum für Wissenschaftsgeschichte; wo die Primärquellen versiegen, zitieren sie eben populäre Autoren wie Frans de Waal, Yuval Noah Harari oder Richard Dawkins als Lieferanten und Orientierungshilfen.
Der Pferdefuß an solcher Auswahl, bei aller Sympathie: So ganz neu und originell ist das alles nicht. "Direktoren, die nur auf die Quartalsergebnisse schielen, zerstören die langfristige Basis eines Betriebs. Psychologen und Ärzte, die pro Stunde bezahlt werden, sind schnell bereit, Behandlungen zu verlängern und besonders teure Therapien vorzuschlagen. Und Bankangestellte, die bei der Vergabe der Kredite nur auf den eigenen Bonus schielen, stürzen die Weltwirtschaft ins Chaos."

Das Gegenmodell heißt: Norwegen

Wie beruhigend ist es da, dass es das Gegenmodell zum Homo oeconomicus längst gibt. Es heißt Homo solidaricus und lebt natürlich in Norwegen, der Heimat der Autoren, jenem Land, das stets ganz vorn liegt, wenn es um Wohlstand, Glück und Lebensqualität geht. Weil die Norweger es einfach kapiert haben: "Die gute Gesellschaft, in der wir hier leben, geht also nicht auf eigene Gene für Vertrauen und Zusammenarbeit bei den Norwegern zurück, sondern darauf, dass wir eine Gesellschaft auf der Basis von Vertrauen aufgebaut haben."
Was also beginnt wie eine im besten Sinne populäre Betrachtung zu zukunftsfähigen Modellen von Gemeinschaft – es endet, als wollte jemand Arbeitskräfte und Investoren für sein Land anwerben.
Ein Nachtrag. In Norwegen erschien der Essay zum Homo solidaricus schon vor drei Jahren. Die Coronapandemie kommt nur im Vorwort der deutschen Ausgabe vor. Natürlich ist das ein Problem, denn so können Harsvik und Skjerve zwar Mutmaßungen anstellen, warum der Tsunami im Indischen Ozean zu Weihnachten 2004 selbst Tausende von Kilometern entfernt Wellen von Mitgefühl und Solidarität erzeugte. Offen aber bleibt die eigentümliche Weigerung selbst aufgeklärter Menschen, einen Zusammenhang zu akzeptieren zwischen der eigenen Bereitschaft, sich impfen zu lassen, und dem Gewinn für die Gemeinschaft; dass nämlich die Seuche sich nur besiegen lässt, wenn möglichst viele solidarisch, das heißt, immun dagegen sind.

Wegard Harsvik und Ingvar Skjerve: "Homo solidaricus – Der Mensch ist besser als sein Ruf"
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob
Ch. Links Verlag, Berlin 2021
187 Seiten, 20 Euro

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