Hanya Yanagihara: "Ein wenig Leben"

Dieser Roman ist in jeder Hinsicht exzessiv

"Ein wenig Leben" von Hanya Yanagihara. Im Hintergrund: die Skyline von New York.
"Ein wenig Leben" von Hanya Yanagihara. Im Hintergrund: die Skyline von New York. © Hanser / picture-alliance / dpa
Von Ursula März · 26.01.2017
"Ein wenig Leben" erzählt auf knapp 1000 Seiten von der lebenslangen Freundschaft zwischen vier Männern in New York. Dabei lebt Hanya Yanagiharas Roman vor allem von seiner psychischen Suggestionskraft.
Die Sogwirkung dieses Romans, der in Amerika bei der Kritik wie beim Publikum heftige Reaktionen hervorrief, ist nicht zu bestreiten. Sie lässt sich mit der Wirkung von TV-Serien vergleichen. Man bleibt ihnen, auch über schwächere Folgen hinweg als Zuschauer treu, weil man mit dem Schicksal der Figuren durch die schiere Dauer ihrer Anwesenheit im eigenen Leben so verstrickt ist, dass es schwer fällt, sie zu verlassen.
Von dieser psychischen Suggestionskraft lebt der knapp 1000 Seiten umfassende Roman "Ein wenig Leben" der 1975 geborenen, in New York lebenden Journalistin und Schriftstellerin Hanya Yanagihara.
Die Romanhandlung erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte von den späten 1960er-Jahren bis zur unmittelbaren Gegenwart, wird aber nicht chronologisch, sondern in zahlreichen Zeitschleifen und Rückgriffen in die Vergangenheit erzählt. Im Zentrum stehen vier Männer, die dem New Yorker Künstler- und Akademikermilieu angehören und seit dem College eng, beinahe symbiotisch befreundet sind.

Ein schwarzes Geheimnis

Mehr und mehr schiebt sich einer von ihnen, der gehbehinderte, regelmäßig von grausamen Schmerzattacken heimgesuchte Rechtsanwalt Jude in den Vordergrund der Geschichte. Er ist ein Waisenkind, das im Kloster und in Heimen aufwuchs – so viel erahnen seine Freunde und mit ihnen der Leser. Aber das schwarze Geheimnis, das ihn umgibt und das er hartnäckig hütet, enthüllt der Roman in einer Verzögerungsdramaturgie und mit einer Redundanztechnik, die wesentlich zu seiner Sogwirkung beitragen. Nicht zufällig teilt Jude den Anfangsbuchstaben seines Namens mit dem des christlichen Erlösers. Denn im Kern ist "Ein wenig Leben" die Geschichte eines Martyriums.
Über Jahre hinweg wurde Jude missbraucht, gezüchtigt und als Strichjunge versklavt. Nur knapp entging er dem Mordversuch durch einen seiner Peiniger. Die Folgen seiner Leidensgeschichte machen ihn zu einem lebenslang Versehrten und zu einem Masochisten, der den inneren Schmerz kompensiert, indem er sich Schnitte an Armen und Beinen zufügt. Das Kontrastbild zur Hölle, die Jude erlebte, ist die rückhaltlos emphatische Hingabe, die er als Erwachsener durch zwei männliche Figuren erlebt: Seinen Professor, der ihn adoptiert, und durch den Schauspieler Willem, einen der vier Freunde.

Ein höchst ambivalentes literarisches Projekt

Aus der Seelenvertrautheit zwischen Jude und Willem wird im Lauf der Jahre ein platonisches Liebesverhältnis. Die Grenzen zwischen Freundschaft und Liebe sind in der parabelhaften Eigenwelt dieses Romans, in die nicht einmal 9/11 als politisches Ereignis eindringt, so fließend wie die zwischen Heterosexualität und Homosexualität. Mag die Kulisse auch der Realität entliehen sein: Ein realistischer Roman im strengen Sinn ist "Ein wenig Leben" nicht.
Er ist in jeder Hinsicht exzessiv, in seinem Umfang, seiner unerbittlichen Steigerung von menschlichem Leiden und in seiner Strategie psychischer Überwältigung. Sie vor allem macht ihn zu einem höchst ambivalenten literarischen Projekt. Seine Virtuosität lässt sich nur schwerlich trennen von jener Trivialität, die aus manipulatorischer Suggestion hervorgeht.

Hanya Yanagihara: "Ein wenig Leben"
Aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner
Hanser Verlag Berlin 2017,
956 Seiten, 29,95 Euro