Hans Ostwald: "Berlin. Anfänge einer Großstadt"

Dokumente einer Metropole

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Buchcover: "Hans Ostwald: Anfänge einer Großstadt"
Hans Ostwalds Werk verrate viel über die Seele Berlins, meint Hans von Trotha. © Kiepenheuer und Witsch / Deutschlandradio
Von Hans von Trotha  · 03.09.2020
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Spree-Athen und Homosexuellen-Strich: Der Journalist Hans Ostwald sammelte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seinem Mammut-Werk „Großstadt-Dokumente“ Beschreibungen der Metropole Berlin. Eine neue Auswahlausgabe bringt uns die Stadt von damals nahe.
1920 wurde Berlin dank diverser Eingemeindungen über Nacht zur drittgrößten Stadt der Welt. Über die legendären Zwanzigerjahre sind wir bestens mit Informationen versorgt. Aber auch davor hatte Berlin bereits "die Stellung der Großstadt eingenommen, das heißt, desjenigen Ortes, der nicht quantitativ eine große Stadt gegenüber kleineren Mitbewerbern ist, sondern der sich qualitativ in sittlicher und anderer Beziehung von der Kleinstadt und dem Lande unterscheidet."

Großstadt-Dokumente

Die Definition entstammt einem publizistischen Mammut-Projekt aus der Zeit davor: Hans Ostwalds 1904 bis 1908 erschienener 50-bändigen Reihe Großstadt-Dokumente. Thomas Böhm macht diese jetzt in kommentierten Auszügen für uns wieder zugänglich – und eröffnet einen überraschend unverstellten Blick auf das alte Berlin. Das ist faszinierend, nicht zuletzt wegen des eigenwilligen Textgenres.
Ostwalds Kaleidoskop versteht sich ausdrücklich als nicht-literarisch, als Alternative zum Großstadt-Roman. Die Texte, von verschiedenen Autoren verfasst, umkreisen im Streben nach dem höchstmöglichen Grad der dokumentarischen Wissenschaft, Journalismus und Literatur. Ostwalds Ziel war, "das Leben so nah wie möglich" abzubilden, was mittels dieser bisweilen etwas spröden, oft ungewohnten, immer wieder überraschenden Textform gelingt. Ostwald spricht von "Dokumenten der Menschlichkeiten".
Thomas Böhm fasst die Idee so zusammen: "Die wahre Größe einer Stadt misst sich daran, wie sehr sie bereit ist, ausnahmslos alle Menschen, die in ihr leben, als ihre Bürgerinnen und Bürger zu betrachten und am Leben in ihren Straßen, Institutionen und in ihren Geschichtsbüchern teilhaben zu lassen."

Vom Kaiser bis zum Homosexuellen-Strich

Und so begegnen wir allen – vom Kaiser beim Ausritt durch den Tiergarten und dem Homosexuellen-Strich gleich daneben über die Textilunternehmer bis zu den "Bummlern und Nachtschwärmern". Dem Umstand, dass der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld für die Reihe schreibt, ist wohl zu verdanken, dass "der Fortpflanzungstrieb im Hüttenfeuer der Großstadt" im Allgemeinen und der Alltag der Homosexuellen im Besonderen immer wieder behandelt werden.
Wir verbringen eine Nacht bei den Arbeitslosen und einen Tag am Kriminalgericht, besuchen Klubs (damals etwas Anderes als heute) und Nachtlokale ("Es ist nicht alles Nachtlokal, was in der Nacht geöffnet hat"). Aber auch "Radfahren um und in Berlin" war damals schon Thema, ebenso die Ost-West-Konkurrenz, etwa beim Vergleich der Seglerreviere Müggel- und Wannsee. Kritisiert wird (unter Pseudonym) das "fabelhaft verzopfte" Aktenwesen, Kritik durch gnadenlose Beschreibung üben Texte über entlassene Strafgefangene, Heimarbeiterinnen oder "mörderische und grausige Wohnungszustände".
Wir erfahren die "Tricks der Falschspieler" und lernen echte Originale kennen – "Motten, die sich im Licht die Flügel verbrannten". Ja, immer wieder gehen die Beschreibungen dann doch ins Literarische über: "Drüben stehen die Autos mit leuchtenden Augen und fauchenden Benzinseelen."
Hans Ostwald hat uns bis heute, beziehungsweise dank Verlag und Herausgeber heute wieder, viel zu erzählen – nicht nur über das Werden, sondern auch über die Seele Berlins.
Hans Ostwald: Berlin. Anfänge einer Großstadt. Szenen und Reportagen 1904 – 1908
Herausgegeben von Thomas Böhm
Galiani Verlag, Berlin 2020
416 Seiten, 28 Euro
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