Hans-Jochen Vogel

Der Muster-Sozialdemokrat wird 90

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Hans-Jochen Vogel am 27.1.2016 in München © picture alliance / dpa / Andreas Gebert
Hans-Jochen Vogel im Gespräch mit Dieter Kassel · 03.02.2016
Ein großes Vorbild nicht nur für sozialdemokratische Generationen nannte Altkanzler Helmut Schmidt seinen langjährigen Weggefährten Hans-Jochen Vogel, der am Mittwoch 90 Jahre alt wird. In unserem Gespräch warnt Vogel vor einem Einzug der AfD ins Parlament.
Der frühere SPD-Kanzlerkandidat, Bundesjustizminister sowie Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Hans-Jochen Vogel, warnt vor einem möglichen Einzug der AfD ins Parlament. Dadurch würden die Dinge im Bundestag schwieriger, insbesondere "die Frage der Koalitionen", sagt Vogel, der am Mittwoch 90 Jahre alt wird.
Der SPD-Politiker fordert, die demokratischen Parteien sollten alles tun, um zu verhindern, dass die AfD die Fünf-Prozent-Hürde überspringe, und verweist auf die jüngsten Äußerungen von AfD-Chefin Frauke Petry und ihrer Stellvertreterin Beatrix von Storch zu einem möglichen Schießbefehl gegen Flüchtlinge an der Grenze. "Das sollte eigentlich dazu genügen, dass diese Partei unter der Fünf-Prozent-Klausel bleibt."
"Im Grunde ein Optimist"
Zu den Gründen für das gegenwärtige Umfragetief der SPD sagt Vogel: "Ich stehe da vor einem Rätsel." Denn eigentlich habe die SPD in der Großen Koalition wesentliche Forderungen ihres Wahlprogramms in geradezu beispielloser Form verwirklicht. "Vom Mindestlohn bis zur Rente mit 63 für diejenigen, die 40 Jahre tätig waren, Frauengleichberechtigung und so weiter", betonte der frühere SPD-Fraktionschef im Bundestag. "Also, an dem, was Sozialdemokraten in der Wahl gefordert haben und was sie jetzt verwirklicht haben, ist eine erhebliche Übereinstimmung".
Er sei jedoch nicht nur Pedant, wie man ihm nachsage, sondern "im Grunde ein Optimist", betonte Vogel. "Und ich glaube, dass die Wirkung des Mindestlohnes, dass die jetzt allmählich auch sich in den Umfragen und im Wählerverhalten zeigen wird."

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Zu den Namen, die zumindest den nicht mehr ganz Jungen sofort einfallen, wenn sie an die Nachkriegsgeschichte der SPD denken, gehört auch der von Hans-Jochen Vogel, ehemaliger Justizminister, Kanzlerkandidat, Fraktions- und Parteivorsitzender und manches mehr. Sein Name fällt heute garantiert oft, denn heute wird Hans-Jochen Vogel 90 Jahre alt. Aus gesundheitlichen Gründen konnte er nicht live mit uns sprechen. Ich habe mich vor der Sendung mit ihm unterhalten und auch über ein Buch gesprochen, das kurz vor seinem Geburtstag erschienen ist.
"Es gilt das gesprochene Wort" heißt dieses, so möchte ich es mal nennen, persönliche Geschichtsbuch. Es enthält Reden aus den 80er- und 90er-Jahren unter anderem, unter anderem aber auch Würdigungen von ihm, Würdigungen von Willy Brandt, Herbert Wehner, Johannes Rau und Richard von Weizsäcker und ein Vorwort von Helmut Schmidt. Und bei all diesen berühmten Namen habe ich natürlich Hans-Jochen Vogel als Erstes gefragt, ob es eigentlich Persönlichkeiten wie die genannten heute in der Politik überhaupt noch gibt.
Hans-Jochen Vogel: Die übliche Antwort ist gegenwärtig ja nein, aber das ist nicht meine Antwort. Ich teile diese Auffassung nicht. Zu ihrer Größe im deutschen Ansehen haben sich die Betreffenden ja auch nicht von einem Tag auf den anderen entwickelt, sondern sie sind im Lauf der Zeit gewachsen, und ich will das auch für heute aktive Politiker nicht ausschließen, dass sie eine solche Entwicklung nehmen. Wenn Sie die Art der Auseinandersetzung zwischen Wehner und Strauß beispielsweise vergleichen oder die Auseinandersetzung, in der Helmut Schmidt die Kritik von Kohl zurückgewiesen hat, dann hat sich im Stil und in der Sprache vielleicht einiges geändert. Aber über Persönlichkeiten fälle ich jetzt aus dem Stand kein so allgemeines Urteil.
Ein Politiker sollte die eigenen Texte und Reden ernst nehmen
Kassel: Wo Sie über die Sprache gesprochen haben, jetzt gerade am Schluss, Herr Vogel, da hat sich natürlich was verändert. Es geht natürlich in Ihrem Buch – es geht um Reden, es geht um Texte, auch um Sprache, und ich finde, Sie sagen was Interessantes in Ihrem Vorwort zu diesem Buch. Sie beziehen sich auf das berühmte Zitat "Was stört mich mein Geschwätz von gestern" und stellen selbst fest, Ihre Meinung sei das nicht. Sie hätten Ihre eigenen Reden und Texte stets sehr ernst genommen. Ist das nicht, mit Verlaub gesagt, eine Selbstverständlichkeit, dass ein Politiker das, was er sagt und schreibt, ernst nimmt?
Vogel: Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, aber es war auch zu meiner Zeit keine hundertprozentige Selbstverständlichkeit. Es gab Kolleginnen und Kollegen, die mit Entwürfen arbeiteten, die ihnen von ihren Mitarbeitern gefertigt worden waren. Und diese Äußerung "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern", die wird ja sogar keinem Geringeren als Konrad Adenauer zugeschrieben.
Also mir ging es schon darum, dass ich die Leser einlade, jetzt, nach 20, 30 Jahren, zu prüfen, ob das, was ich damals gesagt habe, auch heute noch ihrem Urteil standhält, in der sachlichen Richtigkeit, in den Zielen, die ich mit den Reden verfolgt habe, auch mit der Kritik, die ich geübt habe, und mit dem, was ich in den grundsätzlichen Texten, die ja auch Teil des Buches sind, über meine Werteordnung gesagt habe, an der ich mich orientierte.
Und die Würdigung der Persönlichkeiten haben Sie schon erwähnt, da sollte der Leser wissen, welche Menschen in meinem politischen Leben oder überhaupt in meinem Leben für mich eine besonders wichtige Rolle gespielt haben und warum. Und dann sollen sie überlegen, ob diese Würdigung auch aus der heutigen Sicht noch nachzuvollziehen ist.
Aus der Drei-Parteien-Republik der 70er-Jahre ist eine Fünf-Parteien-Republik geworden
Kassel: Das sind in diesem Buch alles ausführliche, hochintelligente, durchaus auch oft pointierte Texte – aber haben Sie das Gefühl, für so etwas ist in der heutigen Politik, in der heutigen Medienwelt überhaupt noch Platz? Heute ist doch eher die pointierte, kurze, knackige Bemerkung gefragt.
Vogel: Ja, das mag sogar ein bisschen mit der digitalen Entwicklung zusammenhängen, denn dort sind ja auch meistens nur kurze und wenige Sätze im Augenblick gefragt, und morgen kommt dann schon wieder ein neues Thema oder eine andere Position. Da ist schon etwas im Fluss.
Kassel: Als Sie aktiver Politiker waren, am Anfang waren Sie das eigentlich in einer Drei-Parteien-Welt – die SPD, die Union und die FDP. Dann kam ab den Achtzigern die Grünen dazu. Heute sitzen mehr Parteien im Deutschen Bundestag, vielleicht kommt bald noch eine dazu – Sie wissen, welche ich meine ...
Vogel: Ja, mein Gott, ja.
Mit einer AfD im Parlament würde Koalitionsbildung im Bundestag schwierig
Kassel: Wir können das mit der AfD noch kurz verschieben, denn eigentlich wollte ich an dieser Stelle fragen, ist auch das, dass es doch ein wenig unübersichtlicher geworden ist, ein Grund dafür, dass es, das ist zumindest auch mein Eindruck, der SPD im Moment so schwer fällt, sich wirklich zu profilieren? Man kann doch, glaube ich, nicht sagen, das liegt halt einfach an der großen Koalition. Da ist es schwierig. Das ist doch vielleicht nicht ausreichend als Begründung.
Vogel: Nein. Das ist insbesondere bei dieser großen Koalition nicht ausreichend, weil wir ja unser Wahlprogramm mit seinen wesentlichen Forderungen in dieser Koalition in einer Art und Weise verwirklicht haben, wie es kaum ein Beispiel in früheren Koalitionen gibt. Vom Mindestlohn bis zur Rente mit 63 für diejenigen, die 40 Jahre tätig waren, Frauengleichberechtigung und so weiter. An dem, was Sozialdemokraten in der Wahl gefordert haben, und was sie jetzt verwirklicht haben, ist eine erhebliche Übereinstimmung.
Die Tatsache, dass es eben jetzt gegenwärtig schon fünf Parteien sind – nein, Moment, vier Parteien, die FDP ist ja ausgeschieden – das spielt natürlich eine gewisse Rolle, vor allen Dingen auch die Linke. Die gab es zu meiner nicht. Und das wirkt sich dann nicht nur bei Umfragen, sondern auch bei den Wahlergebnissen aus. Die AfD – ich hoffe sehr und meine, dass die demokratischen Parteien alles tun sollten, dass die AfD die Fünfprozenthürde nicht überspringt. Und die jüngsten Äußerungen der Vorsitzenden, dass an der Grenze notfalls auch auf Flüchtlinge – und die Stellvertreterin hat, glaube ich, sogar gesagt, auf Kinder – geschossen werden soll, das sollte eigentlich dazu genügen, dass diese Partei unter der Fünfprozentklausel bleibt. Aber wenn sie hineinkommt, werden die Dinge im Bundestag schwieriger, insbesondere schon die Frage der Koalitionen.
Rätselhaftes Umfragetief der SPD
Kassel: Aber was macht die SPD im Moment falsch? Ich meine, diese Grundfrage, die ja eigentlich auch die Grundfrage der SPD immer war, nämlich die nach der sozialen Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft, die stellt sich ja mehr denn je zuvor. Sie stellt sich auch im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage, wobei ich dazu sagen möchte, es gibt kaum einen großen Zusammenhang, in dem diese Frage gar nicht auftaucht – warum gelingt es der SPD nicht, diese Frage wirklich wieder anzupacken und zu ihrer großen Frage zu machen?
Vogel: Ich stehe da vor einem Rätsel. Ich kann die Frage einfach aufgrund meiner Kenntnisse und das, was ich aus den Medien dazu erfahre und aus gelegentlichen Telefongesprächen, kann ich sie nicht beantworten. Im Übrigen, ich bin auch nicht nur ein Pedant, wie man mir oft nachsagt, sondern auch ein Optimist, im Grunde ein Optimist. Und ich glaube, dass die Wirkung des Mindestlohnes, dass die jetzt allmählich auch sich in den Umfragen und im Wählerverhalten zeigen wird.
Ein pedantischer Optimist
Kassel: Ein pedantischer Optimist. Das ist eine interessante Kombination. Herr Vogel, zum Schluss: Wenn heute jemand zu Ihnen käme – vielleicht passiert das sogar manchmal – ein junger Mann, eine junge Frau, die gern in die Politik gehen würde. Aus Ihrer eigenen Erfahrung, aber auch mit Ihrem Blick auf das Heute – was würden Sie einer solchen Frau, einem solchen Mann raten?
Vogel: Ich würde sagen, erstens, es ist gut, wenn du dich engagierst, denn du bist auch für die Demokratie mitverantwortlich. Die Demokratie ist in Weimar gescheitert, weil eben nicht mehr genügend sich für die Demokratie und die Grundwerte und Grundrechte verantwortlich gefühlt haben. Also gut, wenn du dich engagierst. Und dann schau dir ein paar Leute an, von denen du etwas weißt oder dir Kenntnis verschaffen kannst, und dann entscheide dich, nicht aus dem Augenblick heraus, sondern nach Überlegung. Und dann bleibe dabei! Man tritt nicht heute ein und tritt morgen aus irgendeinem Ärger, den man hat, aus. Das muss Kontinuität sein, und das muss sich an Werten orientieren.
Kassel: Sagt der pedantische Optimist Hans-Jochen Vogel, eines der Urgesteine der deutschen Sozialdemokratie. Heute wird er 90 Jahre alt. Jetzt darf ich ihm gratulieren. Als ich das Gespräch mit ihm geführt habe, noch nicht, das war vor Mitternacht nämlich. Das Buch, das wir erwähnt haben, über das wir ja rechtsanspruch ausführlich ja sogar gesprochen haben, das Buch von Hans-Jochen Vogel heißt "Es gilt das gesprochene Wort", und erschienen ist es im Herder-Verlag.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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