Hans-Dietrich Genscher

"Die Menschen wollten Freiheit"

Rückkehr auf den berühmten Botschaftsbalkon in Prag: Hans-Dietrich Genscher im Jahr 2009.
Rückkehr auf den berühmten Botschaftsbalkon in Prag: Hans-Dietrich Genscher im Jahr 2009. © picture alliance/dpa/ZB/Ralf Hirschberger
Moderation: Liane von Billerbeck · 30.09.2014
25 Jahre nach seiner historischen Balkonrede bewertet Hans-Dietrich Genscher die damaligen Vorgänge in Prag. Mit Blick auf den Ukraine-Konflikt fordert der frühere Außenminister eine Rückkehr zur Entspannungspolitik von früher.
Liane von Billerbeck: Als Radiomenschen sind wir immer froh, wenn ein Gesprächsgast so eine Stimme hat, mit der ihn jeder Hörer gleich bei den ersten Worten erkennt! Das gilt auf jeden Fall für den Politiker, mit dem ich jetzt verabredet bin: Hans-Dietrich Genscher, deutscher Außenminister a. D., von dem die meisten von uns wohl die eine Szene in Erinnerung haben, eine historische Balkonszene sozusagen, damals am 30. September 1989, als er vom Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag den DDR-Bürgern, die seit Tagen die Botschaft gestürmt hatten, mitteilte, dass sie nun in den Westen ausreisen dürfen. Jetzt ist der gebürtige Hallenser in Halle an der Saale am Telefon, auf dem Weg nach Prag. Guten Morgen, Herr Genscher!
Hans-Dietrich Genscher: Guten Morgen!
von Billerbeck: Wenn Sie die Filmaufnahmen von damals sehen, rührt Sie das noch, heute, 30 Jahre später?
Genscher: Wie damals, dem kann man sich nicht entziehen, ich will mich dem auch nicht entziehen, aber man kann sich dem auch nicht entziehen, weil das ein solches Urerlebnis war und eine so glückliche Stunde in einem ja manchmal auch sehr tristen Politikerleben, das kann man sich einfach nicht vorstellen.
von Billerbeck: Vielleicht können Sie ein bisschen näher ans Telefon gehen, Herr Genscher, dann hören wir Sie besser!
Genscher: Ja.
von Billerbeck: Wunderbar, jetzt klingt's prima! Das ist nun heute 25 Jahre her, und eigentlich auch schon in den Wochen davor kam ein Zündfunke aus Prag, und so haben Sie auch den Titel Ihres neusten Buches genannt, das Anfang November erscheint. Sie haben es aber nicht allein geschrieben, Sie hatten einen Koautor, Karel Vodicka, Politologe am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Und der hat für dieses Buch Geheimdienstdokumente und diplomatische Korrespondenz durchkämmt. Haben Sie von ihm noch Neues gelernt über das, was damals geschah?
"Die Botschaften seien offen für jeden Deutschen"
Genscher: Im Grunde bin ich ja nicht der Autor des Buches, sondern ich habe ein Vorwort geschrieben. Aber nein, ich meine, im Grunde war das ja offenkundig, was geschehen ist. Ich hatte am 20. Juli einen Herzinfarkt gehabt, war eine Weile außer Gefecht gesetzt, in dieser Zeit konnte ich mit der ungarischen Regierung nur in der Weise verhandeln, dass Mitarbeiter von mir mich in der Reha besuchten, dann nach Budapest geflogen sind, wieder zurückkamen, bis dann die Freilassung möglich wurde nach einem Gespräch der ungarischen Führung mit dem damaligen Bundeskanzler Kohl und mir in Bonn.
Und dann kam Prag, weil nunmehr die Grenzen der Tschechoslowakei zu Ungarn geschlossen wurden und die Flüchtlinge, die zunächst über Ungarn nach dem Westen kommen wollten, nun in die Prager Botschaft hineinströmten.
Die DDR verlangte von mir, ich sollte die Botschaften schließen, das habe ich natürlich nicht getan, im Gegenteil, ich habe mitteilen lassen, es sei schon schlimm genug, dass eine Mauer in Berlin stehe, aber ich sei nicht bereit, auch noch eine Mauer um unsere Botschaften herum zu errichten, sondern die Botschaften seien offen für jeden Deutschen, deshalb hatten wir auch an der Staatsangehörigkeit, der gemeinsamen, festgehalten, wer das wolle.
Und dann kam eben dieser enorme Anstieg. Die Frage war, was kann jetzt geschehen? Es kam der September, im September ist die UNO-Woche, wie wir sie jetzt gerade auch erleben, wo also die Außenminister der ganzen Welt zusammenkommen. Und obwohl die Ärzte bedenklich mit dem Kopf eigentlich geschüttelt haben, bin ich hingerast mit einem Kardiologen in der Maschine, um dort mit dem DDR-Außenminister Oskar Fischer zu sprechen und mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse. Ich habe sie beide mehrmals getroffen, aber auch die Unterstützung anderer Kollegen gefunden, die alle auf vor allen Dingen Fischer eingeredet haben, da müsse doch etwas geschehen.
Ausreisewillige DDR-Bürger steigen mit ihren Kindern über den Zaun der bundesdeutschen Botschaft in der tschechoslowakischen Hauptstadt Prag.
Ausreisewillige DDR-Bürger steigen mit ihren Kindern über den Zaun der bundesdeutschen Botschaft in der tschechoslowakischen Hauptstadt Prag. © dpa/picture alliance/Kemmether
Ich hatte auch den Eindruck, dass der DDR-Außenminister Fischer bemüht war, in Ostberlin Stimmung zu machen für eine humanitäre Regelung. Und schließlich haben wir dann zusammengesessen und ich habe gesagt, was ist denn nun das Problem für Sie, warum lassen Sie die Leute nicht ausreisen? Da hat er gesagt: Ja, wir müssen unsere Souveränität bewahren und das bedeutet, die Leute müssen zurück.
Und ich habe gesagt, es gibt für die Ausreise und für ihre Souveränität zwei Wege, erstens: Sie schicken Ihre Konsularbeamten in unsere Botschaft, die können dort besser stempeln, besser auswechseln, was immer Sie wollen, und dann fahren die Züge über die tschechisch-bayrische Grenze; oder aber, nicht wie Sie wollen, sechs Monate sollen die Leute in die DDR zurückkehren, sondern 60 Minuten, das heißt, die Züge fahren durch die DDR.
Dann kriegte ich am Vorabend, also am 29., kurz bevor ich abfliegen wollte, einen Anruf aus der DDR-Vertretung in New York und da wurde gesagt: Herr Fischer lässt Herrn Genscher sagen, es lohnt sich für Herrn Genscher immer, mit Herrn Fischer zu reden. Das hieß, die Sache klappt und mir wird am nächsten Morgen dann mitgeteilt werden, wie sich die Ausreise im Einzelnen vollzog. Und ich habe darüber den Bundeskanzler sofort telefonisch informiert und auch den Kanzleramtschef Seiters, den ich auch gebeten habe, zu dieser Unterrichtung dazuzukommen. Dann hat die Sache ihren Verlauf genommen.
Aber es war keine einfache Sache, es war ein wirklich hartes Ringen. Und ich wusste ja, wie die Lage der Menschen dort ist, wusste ihre Notlage, warum sie überhaupt weggegangen sind. Das klingt heute alles so einfach, die gingen weg! Die hatten alles stehen und liegen lassen, die wollten Freiheit. Und haben im Grunde nicht nur Freiheit für sich geschaffen, sondern eigentlich den Systemwechsel ganz deutlich sichtbar gemacht.
"Es wird in Europa Stabilität nicht geben ohne Russland"
von Billerbeck: "Zündfunke aus Prag" war das, so heißt das Buch, für das Sie das Vorwort geschrieben haben. Aber die Feiern nach 25 Jahren Abstand, nach diesem Ereignis, die können schon mal getrübt sein, wenn man jetzt sieht, wie es in der Ukraine aussieht. Da ist ja oft das Wort vom neuen Kalten Krieg im Gespräch. Wie getrübt ist Ihre Freude an diesem Tag?
Genscher: Dieser Gedanke, den Sie eben hier aussprechen, der wird heute jeden in irgendeiner Weise bedrücken. Denn für uns hieß das damals ja auch, das ist der erste Stein raus aus der Mauer, dann ist die Mauer gefallen, das war das Signal sozusagen, der Kalte Krieg ist beendet.
Und jetzt sind wir in einer Spannungslage, wo ich nur sagen kann: Wir müssen die Dinge wiederum in einer Weise in die Hand nehmen, wie es das westliche Bündnis damals getan hat, 1967 wurde eine politische Strategie vom westlichen Bündnis verabschiedet, das hieß gesicherte Verteidigungsfähigkeit, aber auf dieser Grundlage Verhandlungen über die Zusammenarbeit und für die Schaffung einer europäischen Sicherheitsstruktur, die überall als gerecht empfunden werden kann. Das ist auch die Aufgabe heute.
Und da gab es keine Prestige-Erwägungen geben, sondern jetzt müssen wir rangehen und sagen, was haben wir zu beanstanden, was habt ihr zu beanstanden, und dann wird man einen Weg finden, wenn man sich gegenseitig ernst nimmt. Wenn man dem anderen das Gefühl gibt auch, man nimmt ihn ernst. Und da ist die erste Feststellung: Es wird in Europa Stabilität nicht geben ohne Russland, erst recht nicht gegen Russland, also muss man sie mit einbeziehen.
Das ist ja auch der Grundgedanke der KSZE, der Grundgedanke der Charta von Paris, die 1990 verabschiedet wurde. Zu all diesen fantastischen und weitsichtigen politischen Konzepten müssen wir zurückkehren und jede Triumphgefühle, wer nun hier den größeren Vorteil hatte, zur Seite schieben.
von Billerbeck: Hans-Dietrich Genscher war das, Bundesaußenminister a. D., 25 Jahre nach seiner Mitteilung über die Ausreise für DDR-Bürger vom Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag. Und das Buch, für das er das Vorwort geschrieben hat, "Zündfunke aus Prag. Wie 1989 der Mut zur Freiheit die Geschichte veränderte", das erscheint am 1. November. Herr Genscher, Ihnen herzlichen Dank und alles Gute für Sie!
Genscher: Danke schön, auf Wiederhören!
von Billerbeck: Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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