Handbuch für deutsche Hausaufgaben

Rezensiert von Josef Schmid · 29.12.2006
Ein Kompendium unserer Gegenwart stellt "Die veränderte Republik" von Klaus Schroeder dar. Der Autor wollte gewiss nur ein Stück Zeitgeschichte schreiben, doch unter der Hand geriet ihm das Werk zu einem Handbuch für nationale Hausaufgaben und noch unerfüllte Hoffnungen.
Das Titelbild eines foliantenschweren Forschungsberichts zeigt den neuen Berliner Hauptbahnhof, als er noch Baustelle war. Das sollte auch gleich ein Hinweis auf seinen Inhalt sein, denn es geht hier um Neues und Unfertiges. In unserer Vorstellung verdienen nur abgeschlossene und leidlich zurückliegende Epochen, in so ansehnlichem und schwerwiegendem Format vorgelegt zu werden. Doch hier geht es um die Entstehung und den Anfang der dritten Deutschen Republik, nach Weimarer, Bonner nun Berliner Republik - also um eine Zeitspanne von 15 Jahren.

Der Inhalt folgt nur scheinbar den konventionellen Politikbereichen und Zustandsanalysen. Er geht klar darüber hinaus und beschäftigt sich mit einer Fülle von Belegen mit dem, was man die Gemütsverfassung in den zusammengefügten Teilen der Nation nennen könnte. Diese Tendenz macht das Werk, ohne zu übertreiben, zu einem Kompendium unserer Gegenwart: mit 750 Seiten, die mit 100 gefällig-bunten Abbildungen und ebenso vielen Tabellen durchsetzt sind. Doch sie stören nicht; vielmehr werden sie gebraucht, um einen Text, der von Abläufen und Veränderungen handelt, bildlich vorstellbar zu machen und seine Lektüre zu erleichtern.

Professor Klaus Schroeder legte die historisch-ökonomischen Kapitel an den Anfang: die Teilungsgeschichte, das innerdeutsche Verhältnis, das sich daraus ergab, und die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Zusammenbruchs einer Ostwirtschaft, die von rheinisch-kapitalistischen Brüdern und Schwestern aufgefangen wurde:

"Erst nach der Vereinigung wurde vielen bewusst, wie fremd ihnen die Landsleute jenseits der Grenze geworden waren. Für die älteren Generationen mag das Bild von den Zwillingen zutreffen, die frühzeitig getrennt und in unterschiedlichen Verhältnissen aufwachsen, auch noch nach Jahrzehnten starke Gemeinsamkeiten aufweisen. Für die nach 1945 Geborenen ist dagegen das Gewicht unterschiedlicher Binnenprägungen bedeutsamer geworden. In beiden Staaten entwickelten sich nahezu alle Verhältnisse diametral: die Ordnung von Politik und Wirtschaft, die Sozialstruktur und die [...] Sozialisationsbedingungen."

Die nationale Frage selbst schien die Teilung lange nicht berührt zu haben, wahrscheinlich, weil die Idee eines neutralen Gesamtdeutschlands noch nicht ausgeträumt war. Das war sie erst, als ab 1970 Walter Ulbricht die DDR als eigenständige "sozialistische Nation" heranreifen sah. Der greise Dissident Ernst Bloch verspottete sie als "a-historischen Materialismus".

Dieser Vorgeschichte zum Trotz vollzog sich die Vereinigung mit so fragloser Legitimität, dass auch westliche Protagonisten des Antinationalen, der neuesten Moderne und Postmoderne beschämt sein mussten. Es soll nicht vergessen sein, dass das heutige Modewort "Lebenslüge" erstmals am Thema der Wiedervereinigung ausprobiert wurde und von da aus seinen Siegeszug durch die feuilletonistische Öffentlichkeit angetreten hat.

Der Geschichtspolitik wird gebührend Raum gegeben. Mit aller Deutlichkeit werden die Verrenkungen des linken Intellekts geschildert, wie er seine ideologische Haut zu retten versuchte, indem er den Verbrechen des Kommunismus ideale Motive wie Gleichheit der Menschen unterlegt. Die Verfolgten des SED-Regimes, die Insassen des Zuchthauses Bautzen, die Opfer in den von den Sowjets ungeniert weiter benutzten Nazi-KZ haben im "selektiven Gedächtnis der westlichen Führungselite" (Barbara Spinelli) keinen Platz. Hieran lässt sich Folgendes zeigen:

"Zeitgeschichtliche Forschung steht in einem engen Wechselverhältnis zur Politik. Sie ist allein schon deshalb politisch brisant, weil sie nicht nur eine nachträgliche Machtkontrolle betreibt, sondern [...] Themenfelder besetzen kann, die aktuellen politischen Handlungsdruck erzeugen oder verstärken können. Das gilt umso mehr in [...] Umbruchsphasen, die einhergehen mit einer gewissen Orientierungslosigkeit [...] Besondere Brisanz erhält dieser Prozess durch die Systemwechsel und die veränderten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen nach 1945 und 1989."

Da in diesem Werk die empirischen Belege bis ins Jahr 2005 reichen, sind den Abschnitten, die Bedenkliches zur allgemeinen Lage Deutschlands enthalten, höchst aktuell. So viel auch von politischer und mentaler Spaltung unterbreitet wird, so finden sich doch West- und Ostdeutsche hinsichtlich der Beurteilung des westlichen Wirtschaftssystems bald auf einer Linie. Lag im Jahr der Vereinigung die Zustimmung im Osten noch bei 80 Prozent, so ist die Zahl der Enttäuschten bis ins Jahr 2005 auf über 60 Prozent geklettert. Aber auch bei den Westdeutschen ist die gute Meinung über ihr System mit dem Jahr 2001 geschwunden. Die kritischen Stimmen liegen bei 50 Prozent. Das klingt wie eine neuerliche deutsche Einigung und zwar in der Ablehnung dessen, was ist.

Ein betont soziologischer Mittelteil befasst sich mit "Lebensweisen", in denen totalitäre und liberale Erziehungsmuster, dort wie da, nachwirken. Hier erhebt sich die Frage, ob und worin sich Werte annäherten. Im Bereich öffentlicher Grundwerte haben "Ruhe und Ordnung" im Lande in beiden Teilen ihre hohe Priorität verloren - zugunsten von Lebenszufriedenheit und bereichernden sozialen Beziehungen. Auf anderen Feldern jedoch bleiben die Unterschiede erhalten.

"Die Westdeutschen hatten 45 Jahre lang einen höheren Status, waren reicher, geschäftstüchtiger, weltgewandter etc. und betrachteten die Ostdeutschen als arme Verwandte. Nun haben sie durch die Vereinigung und [...] durch die Übertragung des westlichen Systems zusätzlich nicht selten in Selbstgerechtigkeit ausartendes Bewusstsein gewonnen. Gleichzeitig bedroht die Vereinigung den Status der Westdeutschen, da die Ostdeutschen nicht mehr mit ihrer alten Rolle vorlieb nehmen wollen [...] reale Wohlstandsverluste trüben den Blick auf die Wiedervereinigung."

Der letzte große Teil widmet sich der Geistesverfassung der Nation, der Vereinigungsbilanz nach "Freude" und "Sorge". Sie ist unerschüttert positiv. Die schwankenden Gestalten finden sich nur im Westen und das hängt eindeutig mit der Arbeitsmarktlage zusammen, angesichts derer der Osten als gewaltige Zusatzbürde erscheint. Die Ostdeutschen fühlen sich ebenfalls in einigen Punkten verschlechtert: in Mietpreisen, Arbeitsplatz- und Rentensicherheit und ungewohnter Angst vor Kriminalität.

Für Rechtsextremismus und Jugendgewalt, die als besonderes Ostproblem gesehen werden, ist ein eigener Abschnitt reserviert. Doch hier wird ebenfalls ein Unterschied zum Westen festgestellt: Im Westen wird diese Bewegung mehr von älteren, sprichwörtlich "Ewiggestrigen" dominiert, während im Osten männliche Jugendliche, häufig Arbeitslose, in Dörfern Vergessene ohne Freundin hierfür den Bodensatz bilden.

Abschließend stellt uns der Autor die Frage: "Ein Staat - zwei Gesellschaften?" Man denkt zurück an Zeiten, wo zweifellos eine Nation in zwei Staaten existierte; nun stellt sich die Frage erfreulicher, aber komplizierter. Nicht ohne Ironie greift der Autor zum Bild vom "Zusammenprall der Kulturen", weil es doch um "tiefe Spuren" geht, die nicht gegeneinander oder nebenher laufen können, sondern einmal zueinander finden müssen. Altkanzler Helmut Schmidt wird vom Autor mit Wohlbedacht hier zitiert:

"Das vereinigte Deutschland kann nicht bloß eine Fortsetzung der Bundesrepublik sein. Die seelische und geistige Integration beider Teile unserer Nation, die seelische Verschmelzung kann längere Zeit benötigen als nur eine Generation. Aber sie kann misslingen, wenn uns nicht im gegenwärtigen Jahrzehnt die wirtschaftliche und soziale Verschmelzung gelingt. Was wir brauchen, ist ein gewaltiger Aufschwung des Gemeinsinns und der Brüderlichkeit."

Klaus Schroeder wollte gewiss nur ein Stück Zeitgeschichte schreiben, doch unter der Hand geriet ihm das Werk zu einem Handbuch für nationale Hausaufgaben und noch unerfüllte Hoffnungen. Es soll Platz finden auf den Arbeitstischen neben Wirtschaftslexikon und Duden.

Klaus Schroeder: Die veränderte Republik - Deutschland nach der Wiedervereinigung
Verlag Ernst Vögel, München 2006