Hamburger Wohnviertel

Das coole Kirchdorf-Süd

08:29 Minuten
Ein Plattenbau im Grünen in Kirchdorf-Süd in Hamburg
Die Hochhaussiedlung Kirchdorf-Süd in Hamburg entstand zwischen 1974 und 1976. © Axel Schröder
Von Axel Schröder · 10.07.2020
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Plattenbauten, viel Grün und Gemeinsinn. Viele Anwohner und Anwohnerinnen leben gerne in der Hamburger Hochhaussiedlung Kirchdorf-Süd, die Mitte der 70er-Jahre gebaut wurde. Ganz so idyllisch ist das Leben dort dann aber doch nicht.
Claudia Rehder kennt Kirchdorf-Süd schon seit knapp 30 Jahren. Als junge Frau machte sie ein Praktikum beim Team der Straßensozialarbeit im Viertel. Untergebracht ist die "Straso" in einem der Plattenbauhochhäuser am Karl-Arnold-Ring.
"Hier ist die Hauptzentrale der Straßensozialarbeit und unser Gemeinschaftsbüro, wo viel Beratung stattfindet. Und dann geht’s hier weiter: Küche und Aufenthaltsraum. In Nicht-Corona-Zeiten kann man sich da auch treffen, Tee und Kaffee mal trinken. Im Moment ist alles ein bisschen runtergefahren."
Es gibt einen Lernraum für Schülerinnen und Schüler, in den Regalen stehen Lexika, Mathematik-Übungs-Mappen, alle Materialien, die für Nachhilfestunden gebraucht werden.
"Nicht alle Schülerinnen und Schüler sind zu Hause ausgestattet. So dass wir jetzt im Rahmen des Homeschoolings auch viel Besuch hatten. Und hier gibt es einen Raum, da kann man sich einzeln oder zu zweit zurückziehen. Das war jetzt gerade in den letzten Wochen sehr wichtig und sehr gut genutzt."

Ein kleines – aber diverses Viertel

Claudia Rehder greift sich ihre Jacke von der Garderobe. Es geht nach Draußen, auf einen Rundgang durchs Viertel. Das liegt im Süden Hamburgs, erbaut in den 70er-Jahren, auf der grünen Wiese. In Ost und West begrenzen Autobahntrassen das Gebiet, im Süden aber auch die Wiesen, alter Baumbestand und die Süderelbe. Kirchdorf-Süd ist gerade mal 0,3 Quadratkilometer groß, hat über 6000 Einwohner. Alte und Junge, Menschen, die in Deutschland geboren oder in den letzten Jahrzehnten eingewandert sind.
"Gut, machen wir mal eine Tour!", sagt Claudia Rehder.
Erste Station ist der Verbund für Interkulturelle Kommunikation und Bildung e.V., kurz: Verikom. Der Verein berät vor allem Menschen mit Migrationshintergrund, bietet Hilfe bei Behördengängen, bei Anträgen auf staatliche Unterstützung, oder Fragen zu Rechnungen.
Es geht darum, denen, die neu dazu kommen, Wege in die Gesellschaft zu ebnen, erzählt Sozialberater Hassan Erkan. Denn ohne einen Arbeitsplatz fühlten sich diese Menschen oft isoliert und das könne dann zu psychischen Problemen führen.
"Die Frauen, die überhaupt keine Arbeit finden können, nicht arbeiten können, sind psychisch besonders belastet und dadurch können sie wiederum ihre Kinder im Bildungs- und Erziehungsbereich nicht unterstützen. Und dadurch ist die Zukunft der Kinder dann auch nicht so sonnig."

Schwierige Bedingungen, die angepackt werden

Auch in den Räumen von Verikom gibt es deshalb für die Frauen die Möglichkeit, sich auszutauschen. Regelmäßig bieten Hassan Erkan und sein Kollege in einer offenen Fahrradwerkstatt Hilfe und Anleitung bei Reparaturen an. Oder sie bringen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen erstmal das Radfahren bei.
Als Hassan Erkan über die Probleme an den Schulen in Kirchdorf-Süd spricht, darüber, dass das Lehrpersonal oft wechsele und mit den Herausforderungen überfordert sei, zieht Claudia Rehder von der Straßensozialarbeit die Brauen hoch, will Erkans Schilderungen so nicht stehen lassen.
"Natürlich sind die Probleme alle da, die genannt wurden. Das mit der Fluktuation stimmt und dass das hier sehr herausfordernd ist, stimmt auch. Aber man arbeitet auch dran, auch gemeinsam. Und das ist in diesem Stadtteil auch was Besonderes."

Dichtes Netz sozialer Einrichtungen

Das Netz an sozialen Einrichtungen, an Hilfsangeboten sei in Kirchdorf-Süd dichter als anderswo. Und dichter als je zuvor, sagt Claudia Rehder. Der kleine Disput zwischen Rehder und Erkan Hassan macht klar: in Kirchdorf-Süd gibt es mehr und vielschichtigere gesellschaftliche Probleme als anderswo.
Auf dem Rundgang durch die Häuserschluchten, durch die in den 90er-Jahren geschaffenen grünen, fast idyllischen Inseln zwischen den Wohnblöcken, erzählt Claudia Rehder vom alteingesessenen Kinderbauernhof im Viertel, vom umgebauten Stadtbus, in dem die Jugendlichen Instrumente kennenlernen und Musik machen können. Aber auch von den typischen Presseanfragen, die immer dann kommen, wenn irgendwo in der Republik Probleme in Großwohnsiedlungen Schlagzeilen machen.
"Wenn es da mal irgendwie um Jugendgangs ging, dann wurde immer auch nach Kirchdorf geguckt. Und dann sind die Jugendlichen hier zum Teil animiert worden, irgendwelche Sachen zu machen gegen eine kleine Belohnung. Und das erschien dann. Und solche Sachen sind dann natürlich gruselig. Aber jetzt, so in letzter Zeit, würde mir nichts einfallen, muss ich sagen."

Liebenswertes Wohnviertel mit einem Problem

Vor dem Freizeithaus, ganz nah am grünen Gürtel zwischen Wohnsiedlung und Autobahn, wartet die 22-jährige Edena. Im Freizeithaus will sie einen Raum für die Verlobungsfeier ihrer Schwester reservieren. Was macht für sie das Leben in Kirchdorf-Süd aus?
"Multikulti. Sehr viele verschiedene Kulturen. Es ist sehr aufregend, mal was Verschiedenes zu sehen als die Standardsachen."
"Gibt es auch irgendwelche Sachen, die Dich nerven?"
"Natürlich kriegt man ein paar Kommentare ab. Schon fiese Kommentare. Aber mittlerweile habe ich mich damit abgefunden. Ich mag es, hier zu wohnen, hab kein Problem damit und sage auch offen, dass ich in Kirchdorf-Süd wohne!"
Gerade wurden die Holzbänke auf dem Marktplatz erneuert, Tische installiert, die zum Picknick, zum Plaudern einladen. Auf dem weiten, rund angelegten Platz spielen Kinder, kurven auf Fahrrädern herum, vor der Ladenzeile mit Döner-Imbiss, Apotheke und Kiosk halten die Kirchdorfer Smalltalk. Einer von ihnen ist Hassan, ungefähr 20 Jahre alt, sportlich, frisch frisiert, einen Zahnstocher im Mundwinkel. Neben ihm steht sein Kumpel, überlässt Hassan das Reden.
"Nicht cool ist die Drogenkriminalität hier. Kann man so offen und ehrlich sagen. Es gibt Leute, die teilweise hier rumlaufen und Drogen verkaufen an Minderjährige sogar. Und das ist nicht cool an diesem Stadtteil. Was cool ist: Wir sind alle eng miteinander verbunden!", sagt Hassan.
"Der hier zum Beispiel. Den kenne ich seit meinem 5., 6. Lebensjahr. Und auch all meine anderen Freunde. Man ist hier wie eine kleine Familie. Das ist das Geile an diesem Stadtteil hier – wenn man hier aufwächst! Wenn man hier nicht aufwächst, wüsste ich nicht, was es gibt, dass man hier bleiben sollte, um ganz ehrlich zu sein."

Lockerheit für ein erfolgreiches Zusammenleben

Die heile Welt findet man in Kirchdorf-Süd sicher nicht, sagt auch Kesbana Klein auf dem Marktplatz. Für die SPD sitzt sie in der Bezirksversammlung von Hamburg-Mitte. Kesbana Klein lebt seit 15 Jahren in Kirchdorf-Süd.
"Ich glaube, diejenigen, die hier lange leben und die hier gerne leben, die haben eines: Die haben so eine gewisse Offenheit. Ich habe immer auch welche erlebt, die sind hierhergekommen, aber auch ganz schnell wieder ausgezogen. Wenn die anfangen, sich über jedes kleine Fitzelchen aufzuregen und sagen: ´Hier liegt aber ein Stück Papier! Und das ärgert mich und dies ärgert mich!`, dann sieht man nur noch diese Dinge", erzählt Klein.
"Und diejenigen, die ich hier kennengelernt habe und die hier lange sind und die sich hier wohlfühlen, die haben einfach dieses ´Ach-lass-mal`. Wir sind ein gutes Beispiel, wie sich das in der Zukunft entwickelt und wie man gut zurechtkommt."
Dass dafür nicht nur Offenheit, sondern auch ein dicht geknüpftes Netz von sozialen Angeboten nötig ist, sei klar, sagt Kebana Klein. Nach den vielen Sanierungsprogrammen der Vergangenheit läuft jetzt das Projekt "Mitte machen!" an, erzählt sie. Das soll das Wohnen in Kirchdorf-Süd noch attraktiver machen und gleich nebenan soll ein neues Wohnviertel ganz ohne Hochhäuser entstehen.
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