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Buch der Woche
Anstachelung zu stilistischer Großleistung

Man gewinnt den Eindruck eines alten Ehepaares, das sich anraunzt und streitet und am Ende doch verträgt, wenn man den Briefwechsel zwischen Marcel Reich-Ranicki und Peter Rühmkorf liest. Der eine Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der andere Lyriker. Insgesamt 300 Briefe - verfasst zwischen 1974 und 2006 - geben zudem Einblick in den Literaturbetrieb vor 40 Jahren.

Von Helmut Böttiger | 07.06.2015
    Schriftsteller Peter Rühmkorf (li.), Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und Fernsehmoderatorin Iris Radisch während der ZDF-Sendung "Das Literarische Quartett" 2006
    Schriftsteller Peter Rühmkorf (li.) und Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (beide bereits verstorben) während der ZDF-Sendung "Das Literarische Quartett" (imago / Hoffmann)
    Reich-Ranicki:
    "So geht das nicht weiter. "
    Dabei fängt es jetzt erst an...
    "Sie liefern nichts, kommen mit immer neuen Vorschlägen, denen wiederum immer neue Ausreden folgen. Unsere Gespräche sind überaus angenehm, aber die Leser der FAZ haben davon gar nichts. Seit einem Jahr ist bei Ihnen der Ehrenstein-Band. Wie lange sollen wir noch warten? Warum sind Sie so faul? "
    Marcel Reich-Ranicki ist ungeduldig. Er will den kapriziösen, einfallsreichen, stilistisch eleganten Lyriker Peter Rühmkorf als Rezensenten für den vom ihm verantworteten Literaturteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gewinnen. Aber das erweist sich als schwieriger als gedacht. Rühmkorf hält ihn ständig hin, macht immer wieder Vorschläge für Bücher, die er besprechen will, bespricht sie dann aber lange Zeit nicht. Der Briefwechsel zwischen Marcel Reich-Ranicki und Peter Rühmkorf ist ein Musterbeispiel für die Probleme, die entstehen, wenn ein emsiger und hurtiger Vollblutjournalist und ein sensibler, ja hochsensibler und bisweilen geradezu divenhafter Schriftsteller aufeinanderprallen. Und das sind beileibe nicht die einzigen Probleme. Es gibt auch politische, es gibt auch ästhetische, und es gibt die leidigen, die durch den Literaturbetrieb hervorgerufen werden. Kann das gut gehen? Marcel Reich-Ranicki tritt 1974 sein Amt als verantwortlicher Literaturredakteur der FAZ an und ist endlich da angelangt, wo er hinwollte: an einer der entscheidenden Schlüsselstellen und Machtzentren des Literaturbetriebs. Bei der einflussreichen Gruppe 47 ist er vor allem als ein auf den Effekt zielender Rhetoriker hervorgetreten, der Pointen setzt und auf Überrumpelung aus ist, und als Kritiker der Wochenzeitung "Die Zeit" hat er genauso geschrieben, wie er immer geredet hat: zupackend, mit mündlicher Verve, mit klaren Positionen, mit Lobeshymnen oder Verrissen, ohne langes Hin und Her. Seinem Vorgänger bei der FAZ, dem geschliffenen Intellektuellen Karl-Heinz Bohrer, wird er später vorwerfen, das Literaturblatt "mit dem Rücken zum Publikum" redigiert zu haben. Reich-Ranicki hingegen wendet sich offensiv ans Publikum, tritt ganz vorn hin an die Rampe. Kaum bei der FAZ angelangt, entwickelt er vielfältige Aktivitäten. Und dazu gehört auch, neue, interessante Mitarbeiter zu gewinnen. Um den gewitzten, sprachverliebten Lyriker Peter Rühmkorf beginnt er sofort zu werben. Mit seinem ersten Brief schickt er ihm gleich vier Bücher zur Rezension und fordert ihn zusätzlich auf, Gedichte für die neu eingerichtete Rubrik "Frankfurter Anthologie" zu interpretieren. Wo aber jeder Journalist und hoffnungsvolle Kritiker sofort Blut geleckt hätte, weist Rühmkorf von Anfang an auf seine Bedeutung hin und legt Wert auf seine primär dichterische Existenz.
    "Bitte mir meine Schreibeigentümlichkeiten belassen zu wollen!"
    Rühmkorf:
    "Ihre übrigen Interpreten haben sich, scheint mir, so furchtbar viel Mühe nicht gemacht. Auch zeigen sie zu wenig Temperament und Subjektivität, harmonische oder verkantete, egal. Das Gedicht hab ich aus dem Buch herausgetrennt, schicken Sie mir die Seite doch gelegentlich wieder zu. Falls meine Laudatio zu lang ist, können wir kürzen, d.h. ich. Ein Verlust wär's auf jeden Fall. Bitte mir meine Schreibeigentümlichkeiten belassen zu wollen! Nur unterlaufene Rechtschreibfehler korrigieren, "aufgetriebne", "wechseltierig", "gekuckt", "organiert" pp sind keine. auch die doppelsinnige Überschrift bitte nicht verändern. – P.S.: Habe eben den Schluss noch mal umgeschrieben, was bei meinen Bohrtiefen wieder einen ganzen Tag gedauert hat. Ich befürchte, die Länge müsste doch in Kauf genommen werden. In jederlei Sinn. So viel Spaß mir diese Art Arbeit macht, so viel Zeit kostet sie mich. Normalerweise lasse ich Texte erst über Funk laufen, um wenigstens einigermaßen zum Äquivalent zu kommen. Ich möchte deswegen anregen, in diesem Ausnahmefall wie Rezension zu bezahlen. Es würde der weiteren Zusammenarbeit ein gutes Fundament einziehen helfen. Die Gerechtigkeit gegenüber den Kollegen bliebe in jedem Fall gewahrt, weil ich nie was hinwichse, immer Grundlagenforschung mitliefre. "
    Man merkt: Dieser Autor hat ein gesundes Selbstbewusstsein. Er fordert. Er schreibt dem Redakteur vor, wie er zu redigieren hat. Und, was für einen Zeitungsredakteur wirklich die Hölle ist: Er schreibt viel zu lang und besteht auch noch darauf, die Sache nur in dieser Länge drucken lassen zu wollen. Dass so etwas überhaupt denkbar ist, dass Peter Rühmkorf sich so etwas herausnehmen kann: Das liegt an der besonderen Situation in den 1970er-Jahren. Literatur und Literaturkritik hatten eine selbstverständliche gesellschaftliche Bedeutung. Marcel Reich-Ranicki eignete ein großer, auf hegemoniale Wirkung bedachter Ehrgeiz, und niemand von oben redete ihm hinein. Von den heutigen Abteilungshierarchien in den Medieninstitutionen war damals noch überhaupt nichts zu ahnen. Reich-Ranicki bestimmte in Alleinregie, und er wollte Rühmkorf. Auch wenn der noch so schwierig war. Und Rühmkorf seinerseits ahnte, welche Rolle er in Reich-Ranickis Überlegungen spielte. Rühmkorf war ein bekannter Lyriker, er war in der engeren Literaturszene eine vielschillernde Figur, und er galt als ein unbestechlicher, unabhängiger Linker. Das war in dieser Zeit zwar nichts sonderlich Besonderes, aber für die FAZ schon. Wenn es Reich-Ranicki gelänge, diesen Paradiesvogel für das Blatt einer immer noch etwas verstockten konservativen Mittel- und Oberschichts-Klientel zu gewinnen, wäre das ein ungeheurer Imagegewinn für sein Literaturressort. Es wirkt wie in einer Stegreifkomödie, wie Reich-Ranicki wirbt und charmiert, verzweifelt und anmahnt, Rühmkorf aber seine Bedeutung zelebriert, sich ständig windet und dennoch immer wieder mal ein preziöses Artikelchen abliefert. Er ist es sich schuldig, dabei auf die Probleme hinzuweisen, die er mit den Artikeln vorne im Politikteil der FAZ hat. Dass er etwa einmal zusammen mit dem ehemaligen SS-Mann und jetzt stramm erzkonservativen Hans Egon Holthusen auf der Literaturseite zu stehen kommt, kann er nicht unkommentiert lassen:
    "Den Holthusen und mich auf e i n e Seite zu zwängen, das zeugt doch bereits wieder von apollinischer Tücke. Abgesehen davon: Ihr Samstagsfeuilleton, das mich hier immer prompt erreicht, ist in D-Land unübertroffen. Gottseidank bleibe ich von der Umgebung sonstwo verschont; manches kommt mir zu Ohren, aber ich lasse es unbesehen vorbeifliegen. "
    Das ist noch eine eher harmlose Raunzerei. Ernster wird es aber, wenn Rühmkorf sich richtig ärgert. Und das tut er natürlich, wenn er wieder mal, wie hier im Jahre 1983 – kurz nach dem Machtantritt Helmut Kohls nach langer SPD-Regierung – einen zu langen Text eingereicht hat und Reich-Ranicki sich darüber beschwert. Es geht um Arno Schmidt, und Rühmkorf verbindet seine narzisstische Kränkung sofort mit politischen Vorbehalten gegen die FAZ und der politischen Entwicklung als solcher:
    "Nicht in der Länge liegt die Enge"
    "Ich hab meinen Beitrag – nach langen, mühsamen Dechiffrierdebatten in Marbacher Spezialistenkreisen und, nachfolgend hier, unter Arnologen und Syndikalisten – sogar noch hübsch persönlich gehalten und das subjektive Engagement leuchten lassen. Was kann man eigentlich noch mehr tun, um der Aufgabenstellung zu genügen und dem Auftraggeber entgegenzukommen? Ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich gewiss, lieber Herr Ranicki, nicht in der Länge liegt hier die Enge, sondern in der merklich geschrumpften Brust der FAZ – die hat nicht mehr die schöne pluralistische Breite von Anno 76-80. Der Wind, wir wissen es, hat sich gedreht, der Trend sich gewendet, und die geliebt-gelobten Fuffziger sind (wo auch nicht als Schwung der Räder, Vormarsch der Förderbänder) so doch als ideologischer Stickmief richtig hübsch wieder real geworden. Da bilden sich denn so kleine Modellfälle wie der unsere quasi unter der Hand. Da kommt es bei offensichtlichen Geringfügigkeiten plötzlich zum Spruch. Und wie sollte es nicht, liegen doch die alten Blöker und Blockierer immer noch auf der Lauer und läuten – genau wie Anno Dunnemals – mit Wilhelm Lehmann einen neuen Sonntag ein: Wie soll sich in solchen Regelkreisen denn noch geistiges Leben entfalten. "
    Das sind wahrlich hübsche Kapriolen, die Reich-Ranicki sehr wohl entziffern konnte: Wilhelm Lehmann, das war ein in den1950er-Jahren auf dem Höhepunkt seines Ansehens waltender Naturlyriker, dessen Zeit 1983 längst vorbei zu sein schien.
    Und die "Blöker und Blockierer", die Rühmkorf beklagt – das ist eine Referenz an den alten FAZ-Kritiker Günter Blöcker, der ein lebender Beweis dafür war, dass es 1945 wahrlich keine "Stunde Null" gegeben hatte, ein eifernder Gegner eines Lyrikers wie Paul Celan und einer Institution wie der Gruppe 47. Doch wohlgemerkt: Der Anlass für Rühmkorfs Zorn war der, dass er ein Gedicht mit 50 Versen besprechen wollte, Reich-Ranicki als Höchstgrenze aber 36 Verse festgelegt hatte. Die Antwort des Redakteurs ist dementsprechend:
    "Ich sehe keinen Grund mich diplomatisch auszudrücken"
    "Lieber Peter Rühmkorf, wir kennen uns schon 22 oder 23 Jahre. So sehe ich auch keinen Grund, mich in diesem Brief an Sie umständlich oder diplomatisch auszudrücken. Um es kurz zu machen: Ihr Brief vom 26. Mai ist eine Unverschämtheit. Es ist noch viel schlimmer: Ihr Brief ist töricht. Die "Frankfurter Anthologie" existiert nun schon so lange und wird, hoffe ich, weiterhin existieren – jedenfalls, so lange ich hier bin. Dies ist nur möglich, weil die Regeln streng angewandt werden. Ihrem Brief aber muss ich entnehmen, dass es nötig ist, darauf hinzuweisen, wer diese Regeln erfunden und festgesetzt hat. Es war nicht ein Vertreter des deutschen Monopolkapitalismus, ich selber habe dies getan. Würde ich von diesen Regeln abgehen, dann würde mit Sicherheit diese Rubrik zusammenbrechen. Ich glaube, dass sie für die deutsche Literatur nützlich ist, und daher muss ich sie verteidigen. Also: Ich lasse mir nicht diese Rubrik von solchen kaputtmachen, die für sich eine Extrawurst in Anspruch nehmen. "
    Rühmkorf ist aber nicht einfach nur eine empfindliche Künstlerseele, die die strikten Zeilenvorgaben einer Tageszeitung als Zensur empfindet. Es ist in diesem Briefwechsel, der sich natürlich fast nur um berufliche Aufträge und sich daraus ergebende praktische Verwicklungen dreht, sehr spannend zu verfolgen, wie Rühmkorf immer wieder damit ringt, ausgerechnet für die FAZ, die er politisch ablehnt, und den Kritiker Reich-Ranicki, dem er eher misstrauisch gegenübersteht, zu schreiben. Das führt zwangsläufig zu schwer erklärbaren Gefühlsaufwallungen und Missverständnissen. Im Zweifelsfall unterliegt Rühmkorf aber jedes Mal der literaturpolitischen Bedeutung, die das Literaturblatt unter Reich-Ranicki entwickelt, und hat ein schlechtes Gewissen dabei. Wir erfahren nebenbei immer mal auch etwas über nähere Zeitumstände. Ein für Rühmkorf recht delikates Problem ist das Verhältnis zwischen Reich-Ranicki und Fritz J. Raddatz, dem Feuilletonchef der "Zeit", dem er politisch, ästhetisch und auch geografisch viel nähersteht – beide wohnen in Hamburg. Reich-Ranicki und Raddatz sind in den 1970er-Jahren die beiden herausragenden Kontrahenten im Mediendiskurs, es ist ein Kampf sich als solche fühlender Giganten, etwa wie Muhammed Ali gegen George Foreman. Die beiden liefern sich Schlachten, die auch in den Anmerkungen zum Briefwechsel zwischen Reich-Ranicki und Rühmkorf unvermeidlich benannt werden müssen, und wie Rühmkorf das Spiel betreibt, sich von beiden nicht vereinnahmen lassen zu wollen, ist durchaus amüsant. Aber dann ist er auch jedes Mal doch wieder froh, wenn Reich-Ranicki den Eingang einer seiner kostbaren Texte mit enthusiastischen Lobeshymnen quittiert:
    Worte der Anerkennung
    "Für Ihre Ringelnatz-Interpretation danke ich bestens. Sie ist vorzüglich und wird, obwohl etwas lang, ungekürzt bei uns kommen. "
    Oder:
    "Bin begeistert von ihrem Wapnewski-Aufsatz. "
    Oder:
    "Ihre Krolow-Kritik, die an diesem Sonnabend erscheint, ist meisterhaft geschrieben. "
    Oder:
    "Wenn ich noch einige so schwierige Mitarbeiter hätte, würde ich zusammenbrechen. Und wenn ich noch einige so gute Mitarbeiter hätte, wäre ich sehr glücklich. "
    Es ist wirklich bewunderswert, welche Energie Reich-Ranicki an den Tag legt, wie er schnurrt und fordert, nachsetzt und schmeichelt. Das ist umso bemerkenswerter, weil den Jubeljauchzern immer auch andere Töne vorausgehen, das ist fast so wie bei richtigen Liebeskämpfen.
    "Ich warte nun sehnsüchtig (und tue dies schon seit über einem Jahr) auf Ihren Ringelnatz-Aufsatz. Gott hat für die Erschaffung der Welt sechs Tage gebraucht, und wie viel brauchen Sie für eine Kritik? Doch wird diese gewiss vollkommener sein als jene."
    Oder:
    "Ich will Ihnen lieber die Aufzählung der Titel ersparen, die Sie in den letzten Jahren auf Wunsch erhalten haben, ohne dann auch nur eine einzige Zeile darüber zu schreiben. "
    Oder:
    "Unsere Reihe "Romane von gestern – heute gelesen" wird im Winter auslaufen. Sie wollten doch für diese Reihe über Döblins "Babylonische Wandrung" schreiben. Sie wollten ferner über das Goethe-Gedicht "Phänomen" zwei Maschinenseiten verfassen. Darüber haben wir zu korrespondieren begonnen, als wir beide noch junge Leute waren."
    So hätte es noch eine ganze Weile weitergehen können, und der Briefwechsel wäre ein schöner Einblick in den Literaturbetrieb der 1970er-Jahre, über die Freiheiten von Redakteuren und Schriftstellern, über die Muße, Texte vorbereiten und diskutieren zu können. Aber dann gibt es doch noch einen dramaturgischen Knalleffekt. Peter Rühmkorf hält zum 75. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki 1995 eine Festrede. Doch kurze Zeit später verreißt der Kritiker Günter Grass' neuen Roman "Ein weites Feld" demonstrativ auf der Titelseite des Magazins "Der Spiegel" und danach in seiner Sendung "Das literarische Quartett". Damit ist eine Grenze überschritten. Für Peter Rühmkorf zählt die Solidarität mit dem befreundeten Kollegen mehr als die bevorzugte Behandlung in einem tonangebenden Feuilleton.
    "Das war autoritäres Niederschreiben"
    "Mit Ihrem Auftritt im letzten "Quartett" haben Sie einen Graben zwischen der Schönen Literatur und ihrer zur ideologischen Lehrmeisterin verklärten Kritik aufgerissen. Nein, das war kein sogenannter "Verriss" mehr, das war das autoritäre Niederschreien eines schwierigen Buches und der in ihm vertretenen Meinungen, die sicher nicht jedermanns Billigung, aber doch wohl ein gewisses Maß an abwägender Duldsamkeit verdient gehabt hätten. Ich hatte ja immer gehofft, dass Sie ihn Ihrer überzogenen Devalvation ein Minimum an verbliebenem Selbstzweifel oder des revidierenden Common Sense folgen lassen würden. Das Gegenteil war der Fall. "
    Rühmkorf lässt zusätzlich ein "Göttinger Sudelblatt" erscheinen, in dem er seine Geburtstagsrede für Reich-Ranicki, seine zwiespältigen Gefühle, diesen Großmagnaten des Literaturbetriebs betreffend, und seine Reaktion auf dessen Grass-Verriss dokumentiert. Das ist ein öffentlicher Akt, und es tritt auch sofort Funkstille ein. Lange Zeit gibt es keinerlei Kontakt mehr zwischen den beiden Protagonisten. Vier Jahre später setzt Rühmkorf dann allerdings wieder zu einem Brief an Reich-Ranicki an. Er hat soeben dessen Autobiografie "Mein Leben" gelesen, und das scheint ihn nachhaltig bewegt zu haben. Der Lebensweg eines Juden in Deutschland im 20. Jahrhundert berührt viel von dem, was auch Rühmkorf umtreibt, er denkt über den Faschismus und die gerade virulenten Neonazis nach, schickt den Brief aber doch nicht ab. Zu schwierig ist die Gemengelage aus Politik und alten Gefühlen, aus Verletzungen und unterschiedlichen Lagern des Literaturbetriebs. Ein Jahr später, Marcel Reich-Ranicki wird 80 Jahre alt, greift Rühmkorf jedoch zu einer anderen Tonlage. Er schickt eine Postkarte, mit ein paar gereimten Zweizeilern, lustig und leichthändig, und spricht die Hoffnung aus,
    "dass diese Prise Calumet
    nicht einfach so vorüberweht"
    Reich-Ranicki lässt ein paar Wochen verstreichen, bis er mit einem eher kühlen Gruß antwortet. So einfach gehe das nicht. Aber er hat eine Idee.
    "Ich erwarte nicht, dass Sie zurücknehmen, was Sie damals verzapft haben. Nur sollten Sie jetzt etwas über meine Arbeit schreiben – nicht unbedingt liebevoll, doch freundlich und respektvoll. Kommt ein solcher ernster Artikel aus Ihrer Feder, dann will ich nicht etwa vergessen, doch immerhin verdrängen, was Sie mir angetan haben. "
    Und so geschieht es denn auch, fast wie in einem richtigen Happy-End. Rühmkorf verfasst einen Beitrag für eine Festschrift zu Ehren Reich-Ranickis, und er schreibt auch wieder einige Beiträge für die "Frankfurter Anthologie", die Reich-Ranicki immer noch in der FAZ betreut. Insgesamt besteht dieser Briefwechsel aus insgesamt knapp 300 Briefen und ist zwischen 1974 und 2006 entstanden. Er ist nicht nur ein zeitgeschichtliches Dokument, sondern auch ein Psychogramm zweier Protagonisten des Literaturbetriebs, die sich umgarnen und umschleichen und dabei den gegenseitigen Vorteil suchen. Und insgeheim umkreist er sogar etwas Zeitloses. Peter Rühmkorf weist einmal listig darauf hin: Dieser Briefwechsel kündet von
    "immerhin möglichen Verständnisschwierigkeiten zwischen Hochliteratur und Großkritik."
    Marcel Reich-Ranicki/Peter Rühmkorf:
    Der Briefwechsel
    Herausgegeben von Christoph Hilse und Stephan Opitz.
    Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 335 Seiten, 22,90 Euro