Hamburg und sein Kiez

Der alltägliche Sexismus interessiert niemanden

In einem Tabledance-Laden tanzt eine junge Frau in einem rot beleuchteten Etablisement auf der Reeperbahn.
Tabledance auf der Hamburger Reeperbahn: Kaum ein bierbäuchiger, betrunkener Mann, der sich nicht selbst total sexy findet - und glaubt, dass die Kellnerin das genauso sieht © picture alliance / dpa
Von Axel Schröder · 11.01.2016
Anders als in der Silvesternacht ist die Polizei nun sehr präsent auf dem Hamburger Kiez. Dort waren vor anderthalb Wochen Dutzende von Frauen sexuell belästigt und bestohlen worden. Axel Schröder beschreibt die aktuelle Stimmung auf der Reeperbahn.
Neon-Reklamen spannen sich quer über die Große Freiheit, über die gerade mal 200 Meter lange Partystraße an der Hamburger Reeperbahn. Ein Strip- oder Tabledance-Laden reiht sich an den nächsten, bullige Türsteher bewachen die Eingänge von Diskotheken und Kneipen.
Julia Staron arbeitet hier als Quartiersmanagerin. Sie ist Mitbetreiberin eines Kiez-Clubs, kümmert sich um das St. Pauli-Museum und ist Dozentin für Veranstaltungsmanagement. Den Kiez kennt Julia Staron seit Ende der Achtzigerjahre. Eine toughe Frau mit klarem Blick, sehr kurzen blonden Haaren.
Sexuelle Belästigung auf dem Kiez? Gehört seit Ewigkeiten dazu
Widerlich findet sie die Übergriffe auf junge Frauen in der Silvesternacht. Auch wenn sexuelle Belästigungen auf dem Kiez schon seit Ewigkeiten irgendwie dazugehören:
"Ich weiß, dass dieses Gegrapsche und Gemache und Getue - das kennt man hier halt. Muss man leider auch sagen. Gerade bei den Frauen, die hier in den Kneipen arbeiten, was die manchmal erleben müssen, da macht man sich kein Bild von ..."
... aber über diesen allabendlichen Sexismus rege sich niemand auf, wundert sie sich:
"Das vergessen, glaube ich, die einen oder anderen, die sich jetzt zu den großen Moralaposteln aufspielen. Ich kenne kaum einen bierbäuchigen, betrunkenen Mann, der nicht meint, er ist total sexy und er muss der Kellnerin eigentlich nur ein bisschen - Knick-knack - und denn wird die den schon toll finden. Das trifft man ja überall und das vergessen, glaube ich, gerade ganz viele."
Vor dem "Safari-Biergarten" steht Kathrin Lüth, unterhält sich mit Kollegen – ihren kleinen Hund, eine französische Bulldogge an der Leine. Kathrin Lüth arbeitet in "Angies Nightclub" als Kellnerin. Dort, erzählt Kathrin Lüth, hat sie zum Glück ein etwas älteres Publikum: Ehepaare, Männer und Frauen, die sich auch zu später Stunde benehmen können. Aber auch vor "Angies Nightclub" waren in der Silvesternacht genau die Männer unterwegs, die alle Grenzen überschritten haben. Erst nur zu zweit haben sie junge Frauen angetanzt, erzählt die Kellnerin:
"Und auf einmal standen innerhalb von zwanzig Minuten fünfzehn Leute da. Und haben dann versucht, untern Rock ... und die mitzuziehen und mitzunehmen und sehr, sehr aufdringlich. Dann in die Jacken zu packen, in die Taschen, die Taschen so abzugreifen. Und da haben unsere Türsteher dann auch gesagt: 'So, jetzt reicht's!' Das ist ganz übel! Und da muss man auch man leider auch durchgreifen!"
Trotzdem fühlt sie selbst sich seit Silvester nicht unsicherer auf dem Kiez, nicht bedroht. Ihre Kollegin Annika Schröder aus der "Bar Roque", direkt auf der Großen Freiheit, empfindet das anders. Eigentlich bin ich ja abgehärtet durch den Job hinterm Tresen, sagt sie:
"Beängstigend ist, dass man sich nicht wehren kann"
"Beängstigend ist ja, dass man sich nicht wehren kann, wenn so zehn, zwanzig Leute um einen rumstehen. Da kannst du machen was du willst. Das ist das Problem! Letztendlich kannst du nur hoffen, dass es dich nicht erwischt! Keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass die Polizeiverstärkung hier irgendwas retten kann. Definitiv nicht."
Denn schließlich, so Tresenfrau Annika Schröder, gibt es auf St. Pauli viel zu viele dunkle Ecken, die gar nicht alle überwacht werden können. Und selbst auf der Großen Freiheit, dort, wo in der Silvesternacht die Übergriffe stattfanden, kommen die Einsatzkräfte im Ernstfall kaum durch, so voll ist es dort an Wochenenden. Und die Zeiten, in denen die Partygänger Platz machen, wenn ein Kranken- oder Polizeiwagen auf der Großen Freiheit durch will, die Zeiten sind lange vorbei, erzählt die Quartiersmanagerin Julia Staron beim Gang durchs Viertel:
"Tja... was ist das? Ich kann es ... nein, es ist mir ein Rätsel. Es ist wahrscheinlich die Spitze der Ignoranz. Allem gegenüber ..."
Julia Staron biegt rechts ein in die Schmuckstraße. Eine dunkle Gasse, der Transsexuellen-Strich. Zwei von ihnen stehen schon auf hohen Hacken an der Straße, Julia Staron grüßt im Vorbeigehen.
Im "Geiz-Club" gibt es Sex für 29 Euro
Natürlich, sagt sie, war der Kiez schon immer eine raue Gegend. Jedes Wochenende zählt die Polizei im Schnitt rund 150 Taschendiebstähle. Seit 2007 gilt ein Waffenverbot. Und weil sich die jungen, testosterongesteuerten Männer danach mit abgeschlagenen Flaschenhälsen attackiert haben, ist zwei Jahre später das "Glasflaschenverbot" in Kraft getreten. Gleichzeitig eröffnen seit einigen Jahren immer mehr Billig-Bordelle:
"Jetzt haben wir so etwas wie den "Geiz-Club". Sex für 29 Euro. Das ist schon ein Phänomen, was relativ jung ist. Das ist glaube ich auch so eine Geschichte, wo so Dinge im Bewusstsein der Leute verrohen, weil das plötzlich keinen Wert mehr hat. 'Sex für 29 Euro!' Was passiert dann auch bei jungen Männern im Kopf? Was für ein Frauenbild wird da auch vermittelt an der Stelle?"
Julia Staron schüttelt den Kopf, zieht die Schultern hoch. Auf dem Weg zurück in ihren Club weht ihr der Wind kalt ins Gesicht. Sie ärgert sich über die Kerle, die in großer Gruppe über junge Frauen herfallen, sie feige begrapschen und ausrauben. Und genauso über die, die jetzt mit erhobenem Zeigefinger auftreten – für die der gesellschaftlich etablierte Sexismus bislang kein Thema war.
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