Hamburg ein Jahr nach dem G20-Gipfel

"Vorm Haus war Krieg, hinterm Haus war Krieg"

Plünderer, Randalierer und Aktivisten des Schwarzen Blocks ziehen am 07.07.2017 in Hamburg durch das Schanzenviertel.
Das Schanzenviertel am 7.07.2017: Plünderer, Randalierer und Aktivisten des Schwarzen Blocks ziehen durch das Viertel. © picture alliance / Markus Scholz/dpa
Von Alex Schröder · 06.07.2018
Geplünderte Läden, brennende Barrikaden: Während des G20-Gipfels in Hamburg kam es im Schanzenviertel zu massiven Ausschreitungen. Auch ein Jahr später sind die Bewohner verunsichert und wütend. Welche Rolle spielte die Polizei?
Das Kopfsteinpflaster ist tiefschwarz, Rußgeruch liegt in der Luft, verkohlte Fahrräder und Müll, zerschlagene Gehwegplatten, eingeschlagene Fenster, eine Handvoll Läden wurde geplündert. Am frühen Morgen des 8. Juli 2017 stehen die Bewohner des Schanzenviertels zu Zweit, zu Dritt zusammen, erzählen einander von ihrer Fassungslosigkeit, davon, wie sie die Nacht erlebt haben.
"Ich verstehe einfach nicht, wo die Intention herkam, einfach alles kaputt zu machen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Leute, die hier wohnen oder selbst die Leute aus der Flora das gutheißen möchten. Und ich würde nur gern wissen, was das für Leute sind, die dachten, sie kommen jetzt mal her, haben einfach den ganzen Abend Spaß, zertrümmern alles und gehen dann wieder nach Hause. Lassen uns dann mit den Scherben allein!"

Die Polizei schreitet nicht ein

Am Abend zuvor hatte sich die Polizei aus dem Viertel zurückgezogen. Nach und nach strömten immer mehr Randalierer auf das Schulterblatt, in die Straße, in der sich auch das linksautonome Zentrum, die "Rote Flora" befindet. Nach Angaben der Polizei hielten sich dort am Ende 1500 gewaltbereite Randalierer auf, die die zuvor angebrachten Spanplatten von Läden rissen und plünderten, die Verkehrsschilder aus dem Boden rissen und unzählige Feuer mit meterhohen Flammen entfachten. Die Polizei ließ die Feuer brennen, schaute dem Barrikadenbau zu. Obwohl rund 15 Hundertschaften samt Wasserwerfern und Räumpanzern vor Ort waren. - Warum ist die Polizei nicht eingeschritten, fragte sich am Morgen danach auch die Künstlerin Miriam Müller, die schon seit drei Jahrzehnten im Viertel lebt:
"Wer konnte, hat sich auf die Dächer geflüchtet. Bei mir im Haus sind 30 Kinder. Die haben unten angefangen, die Häuser einzuschlagen. Die haben nichts gemacht, die standen hundert Meter weiter. Das kann nicht angehen, dass man das dann nicht räumen kann! Da zuzugucken vom Rand, wo alles anfängt zu brennen, alles eingeschlagen wird, wo die Leute nicht mehr wissen, was sie machen sollen und auf die Dächer fliehen. Das geht so nicht."

War es für die Einsatzkräfte zu gefährlich?

Ein Jahr später sitzt Miriam Müller vor einem der portugiesischen Cafés auf dem Schulterblatt. Ein paar hundert Meter weiter knackt ein Abrissbagger die Mauern der Sparkasse in Stücke, die am 7. Juli angesteckt worden war und ausbrannte.
"Der eigentliche Skandal für mich ist, dass die Arbeit der Polizei nicht aufgedeckt wurde. Es wurde nicht klar und transparent gemacht: Was haben die gemacht? Wo sind die Fehler? Warum haben die nicht eingegriffen? Wer ist verantwortlich dafür? Deshalb bin ich überhaupt nicht zufrieden mit der Aufklärung."

Die Erklärung der Polizei: Es sei für die Einsatzkräfte zu gefährlich gewesen, ins Schulterblatt einzurücken, diese Erklärung nimmt Miriam Müller der Polizeiführung nicht ab. Dass Steinewerfer auf den Hausdächern den Einsatz verhindert hätten, hält sie für vorgeschoben:
"Ich kann sagen: Es gab auf dem Schulterblatt 1 die Täter, die von oben etwas runtergeschmissen haben. Ja. Aber auf den anderen Dächern waren Bewohner. Bewohner wie wir sozusagen, die miterlebt haben, wie unten versucht wurde, in die Häuser einzudringen. Es wurden ja auch Wohnhäuser eingeschlagen und die geflüchtet sind. Es hat unten gebrannt! Das halte ich für eine Ausrede! Denn die waren die ganze Zeit mit vier Hubschraubern drüber. Die haben geleuchtet auf die Dächer, die haben in die Wohnungen reingeleuchtet. Und die können ja sehen, was auf den Dächern los ist. Ob da Steine liegen oder ob da Leute kauern."
Einige wenige Videosequenzen, die die Hubschrauberbesatzungen aufgenommen haben, hat die Polizei gleich nach dem Gipfelwochenende der Öffentlichkeit präsentiert. Hinweise darauf, dass sich auf fast allen Dächern Gewalttäter und deponierte Gehwegplatten befanden, lieferten die Aufnahmen nicht. Das vollständige Videomaterial hält die Polizei bislang unter Verschluss, mit Hinweis auf laufende Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.
Ein mit Wurfgeschossen übersäter Straßenabschnitt ist am 07.07.2017 im Schanzenviertel in Hamburg zu sehen.
Anwohner werfen der Polizei vor, tatenlos der Gewalt zugeschaut zu haben.© picture alliance / Markus Scholz/dpa

Ein Sonderausschuss soll den Einsatz aufklären

Die Gewalttaten und das Vorgehen der Polizei soll der Sonderausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft aufklären. Normalerweise tagen die Abgeordneten im prächtigen Kaisersaal des Hamburger Rathauses. Ende Mai machten sie eine Ausnahme. Zehn Monate nach dem Gipfel stellten sich die Mitglieder endlich den Fragen der Anwohner. Die Bänke in der sogenannten "Kulturkirche" in Hamburg Altona waren vollbesetzt. Den Mitgliedern des Sonderausschusses, dem Innensenator und dem Polizeipräsidenten gegenüber machten rund 250 Menschen ihrem Ärger über das Zuwarten der Polizei am 7. Juli letzten Jahres Luft:
"Ich kann nur sagen, wer in dieser Nacht dabei gewesen ist, der weiß in etwa, wie sich Bewohner und Anwohner fühlen müssen, wenn Hilfe nicht kommt, die man dringend braucht."

Drei Häuser hatten die Chaoten in Brand gesteckt. Eltern bereiteten ihre Kinder auf die Flucht über die Dächer vor.
"Vorm Haus war Krieg, hinterm Haus war Krieg. Und irgendwie konnten wir immer nur zusammenhocken, gestresst von diesem tagelangen Hubschrauberterror. Und hoffen, dass das bald vorbeigeht und das wir einigermaßen heil rauskommen."
Die Wucht der Wut, die auch den Abgeordneten des Ausschusses entgegenschlug, überraschte die meisten. Stumme Mienen bei Innensenator Andy Grote und dem Polizeichef Ralf-Martin Meyer. Innensenator Andy Grote machte in seinem Schluss-Statement klar, dass auch der Senat mit dem Einsatz im Schulterblatt nicht zufrieden ist:
"Das, was wir vorhatten, was unser Anspruch ist, ist uns an mehreren Stellen nicht gelungen. Am Freitagmorgen und am Freitagabend haben wir eine Entwicklung gesehen, eine Eskalation, Ausschreitungen gesehen, mit denen wir nicht gut umgehen konnten, mit denen wir als Polizei nicht zurechtgekommen sind. Und das ist etwas, wofür wir uns bereits mehrfach entschuldigt haben. So wollen wir nicht auftreten in der Stadt. Das entspricht nicht dem, was unser Auftrag ist. Und das will ich auch hier gerne nochmal ausdrücklich sagen!"
 Hartmut Dudde (l.), Gesamtpolizeiführer beim G20 Treffen 2017 in Hamburg und Ralf Martin Meyer, Polizeipräsident Hamburgs, sitzen im Sonderausschuss zu den gewalttätigen Ausschreitungen rund um den G20 Gipfel.
Hartmut Dudde (l.), Gesamtpolizeiführer beim G20 Treffen 2017 in Hamburg und Ralf Martin Meyer, Polizeipräsident Hamburgs - ein Sonderausschuss soll die Ausschreitungen aufklären.© picture alliance/Markus Scholz/dpa

Bewohner werfen der Polizei Versagen vor

Trotz dieser Entschuldigungen bleiben viele Schanzenbewohner skeptisch. Ihr Vorwurf: Polizei und Innensenator würden nach wie vor versuchen, das eigene Versagen trotzdem den marodierenden Chaoten zuzuschieben. Henning Brauer vom Stadtteilbeirat im Schanzenviertel vermutet etwas anders. Die Polizei habe nur deshalb so lange nicht eingriffen, weil sie die Randalierer an einem Ort konzentrieren wollte. Damit sie sich nicht in Kleingruppen aufteilen, um dann in mehreren Vierteln zugleich losschlagen.
"Ich glaube, das Trauma von der Elbchaussee am gleichen Morgen saß sehr tief, wo Kleingruppen durch die Stadt gezogen sind und Autos angezündet haben. Das hat auch ein Polizeibeamter vor dem Untersuchungsausschuss sinngemäß gesagt - im Behördendeutsch, so dass es niemand verstanden hat: 'Im Schanzenviertel hatten wir eine statische Lage, wir wollten ja keine dynamische Lage schaffen!' Das heißt ja nichts anderes: 'Da sind auf einem Haufen, wir wissen, wo sie sind. Wenn wir da jetzt reingehen, dann haben wir wieder Kleingruppen, die durch die Stadt ziehen und hier Sodom und Gomorrha anrichten'. Das geht so ein bisschen in die Richtung: bewusst das Schanzenviertel opfern, um den Rest der Stadt vor Kleingrüppchen zu schützen."
Henning Brauer hatte in der Nacht zusammen mit seinen Nachbarn immer wieder versucht, brennende Barrikaden zu löschen und abzubauen und wurde deshalb von den Chaoten bedroht. Seine Haltung zur Roten Flora, zum Autonomen Zentrum, das nach den Ausschreitungen im Zentrum der Senatskritik stand, hat sich nach G20 aber nicht verändert.

Die Rote Flora soll bleiben

"In der Freitagnacht, wo das hier so eskaliert ist, gab es Leute, die der Roten Flora zuzuordnen sind, Versuche, das zu stoppen. - Was sich verändert hat, ist, dass durch diesen billigen Versuch der Politik, die Schuld für diese Eskalation der Roten Flora zuzuschieben, die Solidarität mit der Flora stärker denn je."
Miriam Müller ist da skeptischer:
"Ich weiß nicht, ob das jetzt grundsätzlich und für immer so bleibt. Am nächsten Tag, als hier alles im Chaos lag, waren die ja zum Beispiel von der Roten Flora auch dabei und haben aufgeräumt und geholfen und weggeräumt. Aber ich merke, dass alle so ein bisschen oder viele allergisch sind, keine Lust mehr haben aufs Schanzenfest und auf diese ganzen Sachen. Es gibt schon so ein Gefühl, dass das aus dem Ruder gelaufen ist und dass die das anders hätten einschätzen können."

Sie verweist auf die vielen, besonders aggressiven Gewalttäter aus dem Ausland, auf die völlig unpolitischen Jugendlichen und die Partygänger, die sich an den Ausschreitungen und Plünderungen beteiligt haben.
"Wegen mir können die Politiker endlich mal zurücktreten, aber die Rote Flora tritt deswegen nicht zurück, wird nicht zugemacht, wird nicht geräumt. Natürlich nicht!"
Mittlerweile ist auch der Senat wieder zurückgerudert. Eine Räumung der Flora, wie AfD und CDU sie fordern, ist fürs Erste vom Tisch. Die Begründung: Vor und auch nach dem Gipfel sei keine Gewalt von den Flora-Aktivisten ausgegangenen. Und eine direkte Beteiligung an Ausschreitungen im Schulterblatt sei ihnen nicht nachzuweisen. Das Motto der Aktivisten - "Flora Bleibt" - behält seine Gültigkeit.
Hamburg: Ein Plakat mit der Aufschrift: "Still loving Rote Flora!" hängt in einem Ladenlokal im Hamburger Schanzenviertel.
Bewohner des Schanzenviertels zeigen sich mit der Rote Flora solidarisch.© picture alliance/Axel Heimken/dpa
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