Hamburg-Billwerder

Deutschlands größte Flüchtlingssiedlung

Straßenschild am Gleisdreieck und Wegweiser zu den einzelnen Häusern der Flüchtlingsunterkunft.
Vor den Toren Hamburgs, am Gleisdreieck in Billwerder, leben inzwischen 2500 Flüchtlinge. © imago / Christian Ohde
Von Axel Schröder · 03.08.2018
2500 Flüchtlinge leben in Hamburg-Billwerder in einer im Eiltempo hochgezogenen Neubausiedlung. Ein vorbildliches Projekt, doch schon bald soll ein Teil der Bewohner anderen Sozialmietern weichen. Der Grund: ein sogenannter "Bürgervertrag".
Die Straßen der neuen Siedlung sind fast leer. Noch sind die Bäume, die irgendwann einmal Schatten spenden sollen, viel zu jung. Die meisten Bewohner der Flüchtlingsfolgeunterkunft am Gleisdreieck, an der S-Bahn-Station Mittleren Landweg, meiden die Gluthitze, bleiben lieber in ihren Wohnungen. Unterwegs ist aber der junge Syrer Merfan Khalid mit seinen Freunden. Er fühlt sich wohl hier:
"Ich finde es hier cool. Es fehlt noch etwas, wo man einkaufen kann. Das finden wir hier nicht. Wir müssen nach Bergedorf oder so was. Aber ich finde die Wohnung ganz cool. Ist ein ruhiger Ort und normale Menschen und so."
Zusammen mit seinen Eltern und der kleinen Schwester lebt Merfan in zwei Zimmern, auf 60 Quadratmetern. Das sei zwar eng, erzählt der 18-Jährige, aber irgendwann wird er ja ausziehen, sich eine eigene Wohnung suchen, eine Ausbildung machen. Seit einem Jahr lernt er Deutsch. Eine seltsame Sprache, lacht Merfan, seine Kumpel nicken:
"Die Sprache ist ganz komisch. Ein Wort hat tausend Bedeutungen. Aber trotzdem: wir finden Deutschland schön. Schöne Stadt, gute Menschen. Es gibt keine, die sagen: 'Die kommen aus Syrien. Scheiße. Die haben schwarze Haare' oder so was. Die denken so wie wir: 'Ein Mensch ist ein Mensch!'"
Merfan verabschiedet sich, fester Händedruck, zieht los in Richtung S-Bahn.

800 Wohnungen, in Rekordzeit gebaut

2500 Menschen leben in der Neubausiedlung am Gleisdreieck. In 800 Wohnungen. Entstanden ist die Siedlung in Rekordzeit. Keine zwei Jahre nach dem Planungsbeginn waren die meist vierstöckigen, hellverklinkerten Blöcke, die vier Kitas und ein Jugendzentrum fertig. Möglich gemacht hat das eine 2015 eingefügte Änderung im Baugesetzbuch: Um möglichst schnell möglichst viele Wohnungen für Flüchtlinge zu schaffen und die Erstaufnahmelager zu entlasten, konnten die Planer zunächst auf die aufwendige Ausarbeitung eines offiziellen Bebauungsplans verzichten.
Großbauprojekt: Blick auf die entstehende Flüchtlingssiedlung Hamburg-Billwerder im April 2017.
Noch im Frühjahr 2017 war die Flüchtlingssiedlung eine Baustelle.© picture alliance / Christian Ohde
Erst Ende des Jahres wird dieser Bebauungsplan nachgereicht, erklärt Bergedorfs Bürgermeister Arne Dornquast:
"Jetzt ist es eine Fläche, die nur genehmigt ist als Unterkunft für Geflüchtete und Asylbegehrende, so heißt das im Baugesetzbuch. Und es darf dort niemand wohnen, der nicht Flüchtling oder Asylbegehrender ist, weil die rechtliche Grundlage für den Bau dieser Häuser sich darauf beschränkt. Man könnte also den Eigentümer verklagen, wenn er an irgendjemanden vermietet, der nicht Flüchtling oder Asylbegehrender ist. Deswegen haben wir den Bebauungsplan gemacht, damit wir diese rechtliche Voraussetzung haben, dass man die Wohnungen, die es ja in Wirklichkeit eigentlich sind, dann auch als solche nutzen und vermieten kann."

Ein "Bürgervertrag" schreibt ein gemischtes Viertel vor

Solange kein Bebauungsplan vorliegt, gelten die Wohnungen als so genannte "öffentlich-rechtliche Unterbringung", in der mehr Menschen untergebracht werden dürfen als in Sozialwohnungen. Sobald der Plan aber vorliege, sobald der Investor zustimme, erklärt Arne Dornquast, sollen zunächst 500 Flüchtlinge ausziehen und Platz machen für andere Wohnungssuchende.
"Diese 500 Menschen, für die suchen wir im Moment gerade Wohnraum in Hamburg. Die werden also nicht in eine andere öffentlich-rechtliche Unterbringung umgelegt werden. Und die Wohnungen müssen noch ein bisschen baulich verändert werden, damit sie dem normalen Ausstattungsstandard auch einer Sozialwohnungen dann entsprechen. Und dann werden dort andere Menschen einziehen."
Dass aus dem reinen Flüchtlingsviertel am Stadtrand möglichst schnell ein gemischtes Viertel wird, schreibt auch der so genannte Bürgervertrag vor. Diesen Vertrag hatte die Stadt Hamburg mit all jenen Bürgerinitiativen geschlossen, die sich gegen allzu große Folgeunterkünfte für Flüchtlinge in ihrer Nachbarschaft gewehrt hatten.

Dankbar für die barrierefreie Wohnung

Einer, der gerade erst am Mittleren Landweg angekommen ist, dort vor gerade mal drei Wochen einzog, ist Rajnish Kumar. Im Schatten vor dem Hauseingang hat der 30-jährige Inder seinen Rollstuhl geparkt.
"Everything is allright. I am very happy. Because I am very big krank. My spinal cord is the problem. An then meine Beine is finished. I am not walking. For one year I am sitting in Rollstuhl."
Vor zwei Jahren kam er nach Deutschland. Aber dann, erzählt er, entzündete sich sein Rückenmark. Dankbar ist er. Für die rollstuhlgerechte Wohnung, für die medizinische Hilfe, die er in Hamburg bekommt.
"I am very happy. German government is very big help. Then I am very happy. I am loving Germany."
Ob sein Rückenmark wieder heilt, ob er je wieder wird laufen können? Rajnish Kumar zuckt mit den Schultern. Es wird schon werden, sagt er und bleibt zuversichtlich. Auch im Rollstuhl könne er Arbeit finden.

Ernsthafte Konflikte unter Bewohnern blieben aus

Dass das Zusammenleben von 2.500 Geflüchteten am Mittleren Landweg eine Herausforderung sein würde, war den Planern des Projekts früh bewusst. Damit das gelingt, wurden die potenziellen Bewohner schon vor ihrem Einzug befragt: Wie groß ist die Familie? Gibt es bestehende Konflikte mit anderen Familien? Wie steht es um die Deutschkenntnisse, wie lange leben die Menschen schon in Deutschland? Durchgeführt hat diese Interviews Christiana Kant. Sie und ihr Team arbeiten bei "Fördern & Wohnen", dem Träger der Unterkünfte am Gleisdreieck:
"Wir haben in der Zusammensetzung etwa ein Drittel Menschen aus Syrien, Irak, ein Drittel aus Afghanistan, Iran und dann ein Drittel aus anderen Ländern, zum Beispiel Eritrea. Eritreer machen auch einen großen Anteil aus."
Die Menschen wurden immer gemischt auf die einzelnen Wohnblöcke verteilt. Ernste Konflikte unter den Bewohnern hat es bislang nicht gegeben. Für jeden Wohnblock steht ein Ansprechpartner von "Fördern & Wohnen" bereit und kann bei Nachbarschaftsstreitigkeiten schnell reagieren. Und im sogenannten "Haus 23" bieten Initiativen und Stiftungen regelmäßige Sprechstunden an: Hier können sich Schwangere beraten lassen, es werden Sprachkurse vermittelt und es gibt Hilfe bei Behördengängen oder den Anträgen für eine der vier Kitas auf dem Gelände.

Auf der Suche nach Auszugswilligen

Aber nicht nur das Ankommen wollen Christiana Kant und ihr Team den Geflüchteten erleichtern, sondern auch schon deren Auszug aus dem Quartier am Gleisdreieck einleiten. So sieht es der Bürgervertrag nun mal vor, erzählt sie achselzuckend. Und deshalb wurden die Menschen gerade dazu befragt, wer von sich aus wegziehen möchte, in welches Viertel und wer vielleicht in der Nähe schon Arbeit gefunden hat.
"Wir haben da schon mal so ein bisschen eine Handhabe, dass wir wissen: Wen können wir ansprechen, wenn es darum geht, aus diesem Quartier rauszuziehen, was für jeden Bewohner auf Dauer der Fall sein sollte, weil öffentlich-rechtliche Unterbringung ja immer befristet ist. Egal, ob das jetzt ein Container ist oder eine Neubauwohnung. Das Ziel ist immer, auch mit Unterstützung der örtlichen 'Fachstelle für Wohnungsnotfälle' eine Mietwohnung zu bekommen."
Aber das sei auf dem Hamburger Wohnungsmarkt, vor allem für die oft fünf- oder sechsköpfigen Familien am Gleisdreieck nicht immer einfach. Rund sechs Wohnungen pro Monat werden derzeit am Mittleren Landweg schon heute frei, weil die Menschen auf eigene Faust dort ausziehen. Christiana Kant führt über das Gelände, zeigt das Jugendheim, in dem gerade Freiwillige des Hamburger Konservatoriums einen Trommel-Workshop für Kinder und Jugendliche anbieten. Ganz ohne Konflikte läuft das Zusammenleben auf dem Gelände sicher nicht, erzählt sie. Gerade weil rund 1000 Kinder im Viertel leben, sei es nun mal lauter als anderswo.

Nachbarn klagen über Lärmbelästigung

Zu den wenigen Nachbarn des neuen Quartiers gehören die Meyers. Hohe Bäume, dichte Büsche und ein kleiner Bach trennen ihr Haus von den Neubauten. Den Lärm schirmt das Grün aber nicht ab, erzählt Peter Meyer.
"Da sitzen die Leute hier gegenüber vom Bach. Das sind nun mal Menschen, die mehr Nacht-Menschen sind, abends länger draußen sind als wir. Und die reden und feiern, machen Musik und was nicht alles. Und wir machen schon die Fenster zu, damit wir Ruhe haben. Sonst ist das hier abends unheimlich laut. Was wir sonst nie hatten. Und der normale Deutsche, der sitzt nicht auf der Straße mitten in der Nacht und unterhält sich laut!"
Außerdem würden immer wieder Kinder auf den nahegelegenen Bahndamm klettern und auf dem langen Schotterweg zu ihrem Haus müssten sie nun mit Schrittgeschwindigkeit fahren, um niemanden zu gefährden, erzählen die Meyers und sehnen sich zurück nach ihrer jahrzehntelangen Naturidylle.
"Es ist nicht ganz fair, was die hier mit uns machen, dass sie aus unserem Weg einen Fußgängerweg machen. Und wir werden beschimpft. Bei mir ist gegen den Wagen getreten worden schon zwei Mal. Einer wollte mich schon angreifen, nur weil ich da längs fahre. Ich hätte hier gar nicht zu suchen. Der Bezirk muss doch dann in dem Moment mal was machen."

Beschwerden gab es auch vom Kleingartenverein

Immerhin seien auch schon Steine in ihren Garten geworfen worden, die nur durch Glück niemanden verletzt haben. Aber im Bezirksamt würde man ihre Probleme nicht ernst nehmen, glaubt Peter Meyer. Der Bergedorfer Bürgermeister Arne Dornquast widerspricht.
"Mit Steinen wirft man nicht. Und wenn das jemand tut, dann muss man dem das sagen. Und wenn wir, die Stadt, 'Fördern & Wohnen', die Polizei das tun sollen, dann machen wir das auch. Wenn man uns sagt, was da nicht gut läuft, dann kümmern wir uns drum. Bescheid sagen. Wir kümmern uns. Und am besten auch direkt vor Ort Bescheid sagen!"
Beschwerden gab es auch vom Kleingartenverein, der direkt an die Wohngegend angrenzt. Auch hier würden Kinder Steine über die Hecken werfen, neulich seien sie sogar auf die Dächer einiger Lauben geklettert. Unterm Strich, sagt die Parzellenbesitzern Christina Schulze, hätte sich aber gar nicht viel verändert durch die neue Siedlung:
"Eigentlich denkt man sich auch: 'Die können doch ruhig mal rüberkommenm die Leute!' Aber viel verändert hat sich nicht. Klar, das ist wesentlich mehr Verkehr und Hin- und Hergelaufe. Die Busse sind voller. Aber sonst hat sich nicht viel verändert."

"Als Menschen wahrgenommen werden"

Schräg gegenüber hat Farid Ramadjan seine Parzelle. Schon kurz nach der Jahrtausendwende ist er aus Afghanistan nach Deutschland geflohen. Er wünscht sich mehr Verständnis für die neuen Nachbarn:
"Die sind an dieses Land nicht gewohnt. Die müssen sich auch ein bisschen einstellen. Aber sonst muss man immer ein Auge zudrücken! Denn das kann jeden treffen. Wenn es morgen bei uns knallt, dann müssen wir eventuell in die Türkei flüchten. Und dann möchten wir auch, dass wir als Mensch wahrgenommen werden. Daran müsste man immer denken. Und deshalb muss man irgendwie miteinander auskommen."
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