Halberstadt

Jüdische Erinnerung lebendig machen

Thora-Wimpel im Berend-Lehmann-Museums, das unter dem Dach der Moses-Mendelssohn-Akademie steht.
Thora-Wimpel im Berend-Lehmann-Museums, das unter dem Dach der Moses-Mendelssohn-Akademie steht. © dpa / picture alliance / Jens Wolf
Von Sebastian Mantei · 05.09.2014
Die Moses Mendelssohn Akademie in Halberstadt macht Menschen mit der Tradition des Judentums vertraut - und vermittelt Kontakte zwischen Juden und Christen. Die Geschichte eines deutschlandweit einmaligen Projekts.
Alltag in der Moses Mendelssohn Akademie. Die Leiterin Jutta Dick hilft bei der Recherche nach jüdischen Familien. Der in Halberstadt geborene Wolfgang Rühlmann hat für seine Spurensuche einen weiten Weg auf sich genommen.
"Ich komme aus Finnland, lebe dort seit 45 Jahren und habe aber diese Gegenstände, die meine Mutter mir gegeben hat, von diesem Bankier, - haben mich schon immer interessiert, dass irgendetwas über ihn zu erfahren kriege. Es ist von meinem Großvater. Mein Großvater war Bankier und Herr Joseph war Bankier und die haben nebeneinander gewohnt."
Beide Familien waren befreundet und die Mutter von Wolfgang Rühlmann spielte mit der Nachbarstochter, bis die Familie deportiert wurde. Wolfgang Rühlmann hoffte, dass die Tochter mit dem Kindertransport gerettet wurde. Doch diese Hoffnung erfüllt sich nicht, wie Jutta Dick recherchiert hat:
"Wir konnten aus unseren Unterlagen entnehmen, dass dieses Mädchen leider nicht überlebt hat. Sie steht auf der Deportationsliste vom 12. April 1942. Und sie ist vermutlich mit ihrem Vater deportiert worden ins Warschauer Ghetto. Danach verlieren sich für die Halberstädter Juden die Spuren."
Das Mädchen steht für das Schicksal vieler Halberstädter Juden. Doch durch die Arbeit der Moses Mendelssohn Akademie wird die Erinnerung an sie wachgehalten. Jutta Dick ist seit 1995 in Halberstadt. Damals war sie überrascht, wie viel jüdische Zeugnisse die Nazizeit und die DDR überstanden haben:
"Da war hier in Halberstadt, durch die reiche jüdische Geschichte auch noch im 19. Jahrhundert, hier das Gemeindezentrum erhalten geblieben mit der Klaussynagoge, mit dem Ort der zerstörten Barocksynagoge, Kantorhaus, Ritualbad, was ein eindrucksvoller Gebäudekomplex ist und um den sich zu DDR-Zeiten Halberstädter Bürger gekümmert hatten, damit die Gebäude nicht völlig zerfielen."
Mit dem Einheitsvertrag gelangen die Gebäude ohne Besitzer an die Jewish Claims Conference, die das jüdische Quartier verkaufen will, doch die Stadt hat kein Geld. Zeitgleich findet Anfang der 90er-Jahre in Halberstadt eines der größten Restitutionsverfahren an die Familie Nussbaum statt. Das sorgt für böses Blut, selbst antisemitische Äußerungen werden propagiert:
"Und in dieser Situation erklärte Raphael Nussbaum, der die Interessen der Familie vertrat, wenn solches Gedankengut noch in den Köpfen der Menschen sei, dann würde er, Raphael Nussbaum, für eine zu gründende Stiftung den Gebäudekomplex ankaufen. Und es müsste aber ein Konzept entwickelt werden, das seinen Vorstellungen entspräche, Grundlagen des Judentums, europäische jüdische Geschichte an ein nichtjüdisches Publikum zu vermitteln und Begegnungen zwischen Juden und Nichtjuden zu organisieren. Das hat er zur Bedingung gemacht."
Wenige Jahre zuvor entwickeln Jutta Dick und Julius Schoeps vom Steinheiminstitut der Universität Duisburg-Essen ein Konzept, das genau passt. Damals soll das alte Rabbinerhaus in Essen zu einem Zentrum für jüdische Kultur und Geschichte werden. Der damalige Ministerpräsident von Nordrheinwestfalen, Johannes Rau, ist aber dagegen. Ganz anders in Halberstadt. Dort wird die Idee von Raphael Nussbaum begrüßt, wie Jutta Dick erzählt:
"Was uns sehr freut, ist, dass diese Intention ein nichtjüdisches Publikum zu haben, funktioniert. Das darüber hinaus aber das jüdische Publikum auch sehr interessiert ist und die Moses Mendelssohn Akademie im ehemaligen jüdischen Gemeindezentrum Halberstadt als einen Ort empfindet, an dem man gerne ist und isst. Und die Klaussynagoge auch in ihrer ursprünglichen Funktion als Lehrhaus erlebt und nutzt."
Zeitzeugen erzählen die jüdische Geschichte der Stadt
Die jüdische Geschichte der Stadt lässt sich am besten durch Zeitzeugen erzählen. Die ehemaligen Halberstädter folgen bald der der Einladung in ihre alte Heimat, wie etwa Lilian Rosenberg aus New York. Sie wird 1928 als Lilly Cohn in Halberstadt geboren:
"Diese ersten Jahre, wenn ich zurückdenke, waren sehr angenehm. Ich erinnere mich an die Schultüte und an die vielen Kinder und viele Partys so Geburtstagsfeier zum Beispiel zuhause."
Auch Isidor Kowalski, der heute in den USA lebt, hat einige gute Kindheitserinnerungen:
"Wir haben die jüdische Schule gehabt hier und da war auch ein Kindergarten und wir haben im Sommer sind wir immer zum Harz gefahren und ein ganz normales Leben gehabt."
Man lebt für sich, hat mit den Christen nicht viel zu tun und auch unter den Juden ist man sich oft nicht einig, wie sich Judith Biran aus Tel Aviv erinnert, die als Judith Winter Halberstadt 1939 verließ:
"Es gab damals große Klassenunterschiede, besonders unter den Juden. Und selbst die Reichen untereinander haben auch nicht viel zusammengehalten. Weil, es kamen Religiöse, die koscher waren, und es gab auch Juden, die nicht koscher waren. Und da war das Verhältnis auch nicht so."
Prächtig war die barocke Synagoge, in der engen Unterstadt. Sie wurde in einem Innenhof in der Bakenstaße 1712 eingeweiht. Der Hofjude Behrend Lehmann ließ sie errichten. Von dem barocken Glanz schwärmt Shimon Kowalski. Er ist heute in Rehovot in Israel zu Hause.
Shimon Kowalski: "Der Eingang in die Synagoge war ein großen Korridor mit einen roten Teppich, auf der rechten Seite eine Garderobe und auch ein Tormann, was hat gehabt einen blauen Anzug, wie ein Hotel ist heute bekannt. Durch den Korridor sind wir reingekommen in eine Lobby mit Sesseln. Von dort ist man reingegangen in den Gebetsaal. Von der rechten und der linken Seite waren Treppen von der Frauenabteilung."
Genau die mochte die 1919 geborene Lea Klopstock überhaupt nicht. Sie lebt heute im Moshav Shituvi in Israel:
"Wir sind zur Synagoge gegangen am Yom Kippur und Sukkot und zu den Feiertagen. Es hat mich immer furchtbar geärgert, dass wir Frauen da oben sitzen konnten und durch Vorhänge die anderen sehen konnten."
Spürbarer Antisemitismus schon Anfang der 30er-Jahre
1938 muss die jüdische Gemeinde das barocke Gebäude auf eigene Kosten abreißen. Die Judenhetze ist da in vollem Gange. Der Antisemitismus ist aber schon seit Anfang der 30er-Jahre zu spüren, wie sich Isidor Kowalski erinnert:
"Um 1933 hat mein ein Freund besucht. Ich glaube, das war in Ilsenburg. Da haben schon zwei Nazis gewartet und ihn geschlagen. Und da ist er nach Hause gekommen und hat gesagt, wir müssen uns einpacken und nach Israel raus."
Ähnlich ergeht es auch Lilian Rosenberg:
"Wir kamen von der jüdischen Schule, die nicht weit entfernt ist von meinem Elternhaus. Und auf der anderen Straßenseite waren Kinder, ältere Kinder als wir, die Steine auf uns geworfen haben. Und natürlich tut das recht weh. Und ich dachte, wir haben ja gar nichts getan, wir haben ja nichts angestellt, was ist eigentlich los. Und dann haben sie uns beschimpft als Juden, und erst dann habe ich verstanden, dass ein Hass da ist."
Lilian und ihr Bruder können Hitlerdeutschland verlassen. Auch Aron Hirsch entkommt. Er stammt aus der großen Unternehmerfamilie Hirsch, die Halberstadt Weltruhm einbrachte. Der in Tel Aviv lebende Aron Hirsch genießt es, wenn er durch die Räume der noch existierenden Klaussynagoge geht:
"Es ist ein bisschen für mich wie ein Museum. Nicht nur das Museum, wo ein paar Gegenstände sind, die von meiner Familie stammen. Aber die ganze Stadt, jedenfalls die Altstadt und dieses Gebäude, wo wir uns jetzt befinden, ist das Gebäude, in dem mein Vater und Großvater gebetet haben."
Zwischen Museum und Klausssynagoge liegt das Café Hirsch in einem Fachwerkhaus, wo einst der Kantor wohnte. Hier wird jüdische Küche serviert, wie Küchenchefin Gerti Wenzel anpreist:
"Wir verarbeiten also nur Hühnerfleisch, Rindfleisch - kein Schweinefleisch, auf keinen Fall, ja. Was hier bei uns besonders ist, sind die hausgemachten Nudeltaschen, Nudelhalbmode, denn noch das besondere sind Plinsen mit Pilzen, das sind ganz dünne Eierkuchen, ganz zarte dünne, ja."
Den Gästen gefällt das: Jüdische Geschichte und Küche im jüdischen Viertel.
Gast: "Wir haben uns das Museum angeschaut und es ist schön, dass man passend dazu essen kann."
Dokumentation der drei jüdischen Friedhöfe
Hier kehren auch Dan Bondi und seine Frau Natanya Hüttenmeister ein, wenn sie in Halberstadt sind. Sie sollen das aktuelle Projekt der Moses Mendelssohn Akademie voranbringen - die Dokumentation der drei jüdischen Friedhöfe. Für die Experten ein weites und spannendes Feld. Sie müssen hebräisch lesen und die Zeichen deuten können.
Natanya Hüttenmeister: "Also die Löwen sind hier auf so vielen Grabsteinen, dass ich denke, dass es hier kein Namenssymbol ist, hier sind sie mehr Verzierung. Die Krone hat verschiedene Bedeutungen, in der Regel, wenn nix dabei steht, die Krone des guten Namens, nach Sprüche der Väter. Rabbi Schimon sagt: Drei Kronen gibt es, die Krone des Königstums, die Krone der Thora und die Krone des Priestertums. Aber die Krone des guten Namens überragt sie alle."
Die Moses Mendelssohn Akademie will die jüdischen Zeugnisse bewahren und zeigen. Touristen, Journalisten und Schüler kommen - selbst aus Israel, wie Akademieleiterin Jutta Dick berichtet:
"Die kommen regelmäßig. Und da ist eine persönliche Verbindung. Ein Nachfahre einer jüdischen Schule, die in Halberstadt gelebt, ist Lehrer an der Schule in Mewasseret Zion. Und kommt mit Klassen schon lange nach Deutschland. Und Halberstadt ist als sein Heimatort ein zusätzlicher Anlaufpunkt geworden und ich glaube für die israelischen Schüler ist es besonders spannend zu sehen, welchen Hintergrund die Familie ihres Lehrers hat und auch hier in Halberstadt erfahren zu können, an einem ganz fest umrissenen Ort erfahren zu können, wie Juden in Halberstadt gelebt haben."
Das Bild von Deutschland ist für die jungen Israelis ein positives, auch wenn es Meldungen von Neonaziaufmärschen gibt. Das ändert an den Erfahrungen der Schülerin Zohar nichts. Sie war bereits zweimal in Halberstadt:
"Beide Male habe ich die deutschen Jugendlichen als sehr respektvoll erlebt. Als ich das mit den Nazis in den Nachrichten gehört habe, konnte ich nicht glauben, dass wieder Nazis geben soll. Denn ich bin heute ein Freund der Deutschen."
Jutta Dick wünscht sich für die Zukunft, weitere junge Menschen, die an der Erforschung und Bewahrung des jüdischen Erbes mitwirken. Auch hofft sie, dass die Bewerbung der jüdischen Geschichte Halberstadts um das UNESCO-Weltkulturerbe Erfolg hat. Das wäre zum 20. Geburtstag der Moses Mendelssohn Akademie im nächsten Jahr das größte Geschenk.
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