Hajo Seppelt: Doping ist Normalität in China

Moderation: Dieter Kassel · 21.07.2008
Nach Einschätzung des Sportjournalisten Hajo Seppelt gibt es in China eine andere Einstellung zu leistungssteigernden Mitteln. Die Mentalität zu manipulieren sei in der chinesischen Gesamtgesellschaft weit verbreitet. Nur im Olympiajahr gelte es als Schande. Ein Dopingfall sei ein medialer Super-Gau für die Chinesen. Deshalb würden sie eher auf ein paar Medaillen verzichten als einen einzigen positiven Test zu erleben.
Kassel: Was haben die Tour de France und die Olympischen Spiele gemeinsam? Bei beiden entscheidet nicht nur das Training über den Erfolg der Sportler. Bei der Tour haben wir uns an das Doping längst gewöhnt, bei den Olympischen Spielen werden wir uns wohl daran gewöhnen müssen. Trotz Beteuerungen der chinesischen Regierung und großer Angst vor einem olympischen Dopingskandal werden in China illegale Substanzen weiterhin hergestellt und wohl auch eingesetzt. Das beweist eine ARD-Fernsehdokumentation der beiden Journalisten Hajo Seppelt und Jo Goll. Die Dokumentation läuft heute Abend um 21 Uhr im Ersten und Hajo Seppelt ist jetzt für uns am Telefon. Morgen, Herr Seppelt!

Hajo Seppelt: Guten Morgen!

Kassel: Sie haben eben wegen dieser Dokumentation in diesem Jahr wenig Zeit gehabt, die Tour de France zu beobachten. Das haben Sie in den anderen Jahren immer sehr genau getan. Drei Dopingfälle hat es da diesmal wieder gegeben, ein prominenter, der zum Rückzug eines ganzen Teams geführt hat. Überrascht Sie das nicht mehr, oder überrascht Sie das in Anbetracht der Skandale in den letzten beiden Jahren erst recht?

Seppelt: Mich überrascht ehrlich gesagt im Profiradsport oder überhaupt im Sport ziemlich wenig, denn die Mentalität des Manipulierens ist halt nicht etwa verschwunden, nur weil der Druck von außen größer geworden ist. Es ist nach wie vor so, dass die Strukturen des Spitzensports dazu führen, dass Athleten in die Versuchung, in die Verlockung geraten, dem Erfolg nachzuhelfen, weil das einfach am Ende sich monetär rechnet. Also ist das im Radsport nicht anders als vor zwei, drei Jahren.

Auch wenn von außen der Druck größer geworden ist, wird man offensichtlich - und das hat sich ja in diesem Jahr wieder gezeigt - immer wieder das versuchen, was unter dem Radar möglich ist, also entweder Substanzen in geringen Dosierungen einzunehmen, oder Substanzen zu nehmen, von denen man glaubt, dass sie noch nicht nachweisbar sind. Das ist in diesem Jahr zum Beispiel bei Rico ins Auge gegangen, allerdings zeigt das eben auch deutlich, dass die Strukturen und auch die Mentalität im Sport sich nicht sonderlich geändert haben.

Kassel: Dazu passt ja, Sie haben das ja angesprochen mit dem Fall Rico, dazu passt ja, dass es jetzt heißt, die betroffenen Athleten seien Opfer ihrer Ärzte geworden, die ihnen versprochen haben, die jeweiligen Substanzen seien noch gar nicht nachweisbar im Doping, waren sie ja nun in diesen mindestens drei Fällen ja doch. Das heißt, die Angst vor einer erfolgreichen Kontrolle beeindruckt noch manch einen und alles andere nicht mehr?

Seppelt: Es ist im Prinzip genauso wie vorher, es hat sich nichts verändert. Vor ein paar Jahren war es so, dass gedopt worden ist, weil man geglaubt hat, Substanzen sind nicht nachweisbar. Die Strukturen in der Dopinganwendung haben sich nicht verändert. Vor ein paar Jahren hat man EPO genommen, weil man geglaubt hat, es sei nicht nachweisbar, das EPO, das klassische also, man hat Blutdoping gemacht. Jetzt hat man CERA genommen, diese neue EPO-Variante, weil man geglaubt hat, die Fahnder könnten das nicht aufspüren. Man tut immer also all das, wo man glaubt, am Ende sei nichts zu finden, und da sieht man halt, dass der Spruch "Doping ist, was nicht auffliegt, Doping ist, wenn ich nicht positiv getestet worden bin", dass der offensichtlich immer noch wahrheitlich ist.

Kassel: Gerade bei einer Veranstaltung wie der Tour de France geht es ja ums große Geld, das tatsächlich immer noch verdient wird damit, trotz aller Skandale. In China, um darauf jetzt zu kommen, Herr Seppelt, in China geht es ja um die Ehre und Erfolge für das Land, man will da Medaillen, Weltmeister gerne werden bei den Olympischen Spielen. Dennoch, als Sie hingefahren sind - die Einstellung der Sportler, der Trainer, ist die ähnlich wie sonst im Weltsport, was das Doping angeht?

Seppelt: Es ist, glaube ich, nicht ganz richtig zu sagen, es ginge den Chinesen nur um die Ehre. Wer bei den Olympischen Spielen für das Gastgeberland eine Goldmedaille holt, der wird auch reich werden, der kann richtig viel Geld verdienen. Es gibt zwar ein nationales Ereignis, die Nationalspiele, da kann man mitunter noch mehr Geld verdienen, weil die Provinzen ihre Sieger fürstlich honorieren, aber ich sage mal so: Die kapitalistische Motivation, durch einen Sieg sehr viel zu verdienen, die ist auch in China reichlich vorhanden.

Wir haben keinen Beleg dafür derzeit, dass es in China Staatsdoping gibt, von oben 1angeordnet, das können wir so nicht sagen. Die Chinesen versuchen mit allen Mitteln erstens, Dopingberichterstattung zu verhindern, wie wir uns leider überzeugen mussten, aber tatsächlich auch einen positiven Fall bei den Spielen zu verhindern, denn das wäre, glaube ich, das Schlimmste, was ihnen passieren könnte, das wäre der Super-Gau. Da verzichten sie lieber auf ein paar Medaillen.

Das hat aber nichts damit zu tun, dass auch in China die Mentalität zu manipulieren eine sehr stark ausgeprägte zu sein scheint, nicht nur übrigens im Sport, sondern in der Gesamtgesellschaft. Es gibt eine Umfrage, die wir gefunden haben, sehr versteckt im Nationalen Olympischen Komitee, von China ist die gemacht worden, im Internet zu finden: 60 Prozent der Chinesen sagen darin, dass sie Doping als Mittel für die Leistungssteigerung sehen würden, nur 9 Prozent sagen, es sei gesundheitsschädigend, und das, finde ich, ist schon ein Indiz dafür, wie die Chinesen in Sachen Doping oder überhaupt leistungsstärkende Mittel ticken.

Im Sport selber und eben auch in der Gesellschaft gilt das Motto "Viel hilft viel", man nimmt die Mittel, um den Körper zu stärken, die Leistung zu stärken, und das drückt sich auch im Sport aus. Aber im Olympiajahr gilt das dann wiederum als Tabu, als große Schande. Im chinesischen Denken oder Fühlen, so war unser Eindruck, wird das Individuum dem Kollektivgeist untergeordnet, und wenn jetzt die große Schande über einen Chinesen kommen würde und damit eben über ganz China, dass er als Dopingsünder dasteht, dann wäre das außerordentlich peinlich, und deswegen versucht man momentan, mehr Schein als Sein zu demonstrieren. Das ist unser Gefühl.

Kassel: Diese Einstellung, die sich auch in dieser Umfrage, die Sie gerade erwähnt haben, niederschlägt - ist das Naivität oder ist das Kaltblütigkeit?

Seppelt: Es ist weder Naivität noch Kaltblütigkeit, ist mein Eindruck, sondern es ist einfach eine andere Denke. Ethische Grenzen in China sind, glaube ich, anders definiert, als wir das hier in Europa tun. Das muss man gar nicht bewerten, das ist einfach anders, das haben wir auch erlebt in China, als wir recherchiert haben.

Ich nenne ein Beispiel: Wir haben sehr viel mit versteckter Kamera drehen müssen, wir waren in Fabriken, die Dopingsubstanzen herstellen, dort hat man uns für Dumpingpreise ein Anabolikum angeboten, das hier einen vielfachen Wert hat. 150 Euro haben wir bezahlt, die offizielle Referenzsubstanz in Deutschland würde bis zu 40.000 Euro kosten. Das sind schon erhebliche Unterschiede. Und dann am Ende des Gesprächs sagte dann der Verkäufer - wir hatten uns da als Berater deutscher Pharmaunternehmen ausgegeben - sagte dann: Na ja, also, jetzt ist das ein Dopingmittel, sagt unsere Regierung, während der Zeit der Spiele dürfen wir das nicht verkaufen, danach geht es wieder einfacher.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit Hajo Seppelt, einem der beiden Autoren der ARD-Dokumentation "Das Reich der Mittel" über Doping in China. Sie haben gerade erzählt, Herr Seppelt, wie Sie da mit versteckter Kamera zum Beispiel bei den Pharmaunternehmen waren, sich als etwas anderes ausgegeben haben, als Sie sind. Das haben Sie ja mehrmals gemacht. Sie waren dann auch noch in einem Krankenhaus, das Gen-Doping anbietet, haben sich da als Berater eines amerikanischen Radprofis ausgegeben. Wie haben Sie das geschafft in einem Land, in dem man doch eigentlich als ausländischer Journalist keinen Schritt vor die Tür tun kann, ohne beobachtet und verfolgt zu werden?

Seppelt: Wir müssen mit einigen Klischees aufräumen. Ich glaube, über China...

Kassel: Tun Sie das.

Seppelt: Ja, das sollte man wirklich tun, finde ich. Über China wird sehr, sehr viel erzählt in Deutschland und Europa, und manche Dinge, die stimmen einfach nicht. Es ist einfach nicht wahr, dass uns ständig schwarze Karossen begleiten. Es ist einfach nicht wahr, dass wir permanent einen Aufpasser um uns herum hatten. Wir konnten uns, wenn wir denn da waren, relativ frei bewegen.

Das Problem war was anderes. Das Problem war, dass wir ständig behindert worden sind, wenn wir mit Interviewpartnern sprechen wollten, dass Interviews nicht möglich waren, auf die lange Bank geschoben worden sind, dass wir monatelang keine Antwort erhalten haben, dass es eigentlich schon ein Riesenakt ist, überhaupt ein Interview mit einem Vertreter des Sportministeriums zu bekommen.

Und es war tatsächlich nach der Tibetkrise auch sehr, sehr schwer, in das Land hineinzukommen, weil die Chinesen, und damit haben sie sämtliche Regularien für ausländische Reisejournalisten gebrochen - die also nur vorübergehend in das Land kommen, deswegen nenne ich sie jetzt Reisejournalisten -, denen ist ja gesagt worden, sie hätten jetzt freie Arbeitsbedingungen. Wir sollten aber, um das Visum überhaupt zu bekommen, den Chinesen erklären, mit wem wir zu welchem Thema wann wo Interviews machen würden, und das, finde ich, geht nun überhaupt nicht und ist mit den Regularien, die sie selber unterschrieben haben, in keiner Weise vereinbar. Solche Sachen haben wir halt auch wieder erlebt.

Das Drehen mit versteckter Kamera war gar nicht anders möglich und eine Kamera, die versteckt ist, hat ja den Vorteil, dass sie nicht zu finden ist. Insofern war das dann wiederum teilweise gar nicht so schwer. Und in dieses Krankenhaus, von dem Sie gerade gesprochen haben, sind wir halt hineingegangen ... Ich hatte einen Tipp bekommen aus Nordamerika, dass dort Profisportler sind, die zum Gen-Doping nach China fahren würden, und dann haben wir aufgrund dieser Recherche einen anonymen Hinweis auf Krankenhäuser in China erhalten.

Wir sind in ein Krankenhaus gegangen, die uns einen Termin gegeben hatten, und die haben dann gesagt, na ja, eigentlich haben wir mit so was keine Erfahrung, aber wir machen es mal bei Ihnen, auch wenn der Sportler gesund ist, eine Stammzellbehandlung, eindeutig Gen-Doping nach dem Code der Welt-Anti-Doping-Agentur, zum Preis von 24.000 Dollar. Und das hat uns dann doch schon ein wenig überrascht, wie einfach das möglich war.

Ich möchte aber auch sagen, das sind Menschen, bei denen wir das Gefühl hatten, die uns das anboten: Die haben gar kein Unrechtsbewusstsein, da ist eine kriminelle Energie gar nicht unbedingt zu spüren gewesen, so nach dem Motto, wie können wir Ihnen helfen, wir würden gern Geld verdienen, machen wir ein Geschäft. Ganz einfach. Nun kann man sagen, dass die das so empfinden, ist empörend. Finde ich auch. Aber ich sage es wirklich, da sind nicht irgendwelche Menschen, die es nur auf die dicke Kohle abgesehen haben und dafür alles tun würden, quasi ihre Großmutter verkaufen, so ist es auch wiederum nicht, sondern es scheint irgendwie so ein Stück Normalität zu sein, und das wiederum ist natürlich sehr erschreckend.

Kassel: Was die Olympischen Spiele nun angeht, Herr Seppelt, Sie haben es ja selber gesagt: Man hat in China unglaubliche Angst vor diesem Gesichtsverlust, wenn es da wirklich einen nachgewiesenen Dopingfall im chinesischen Team geben würde. Was bedeutet denn das? Haben wir damit tatsächlich nicht zu rechnen, weil die so viel Angst vor diesem Gesichtsverlust haben, dass die eigentlichen Olympiaathleten tatsächlich nicht gedopt sein werden?

Seppelt: Sie werden nicht unmittelbar gedopt an den Start gehen, das wird man wirklich versuchen zu verhindern, könnte ich mir vorstellen. Das wäre wirklich superdämlich, wenn das auch noch passieren würde. Aber jeder, der sich mit Doping ein bisschen über einen längeren Zeitraum beschäftigt, der weiß ja dann, dass ein gedopter Athlet im Training manipuliert wird und dass die Auswirkungen sich dann im Wettkampf niederschlagen. Insofern würde ich nicht sagen, Athleten, die bei Olympia am Start sind, sind nicht gedopt. Ich würde nur sagen, sie sind momentan mit keinen Substanzen am Start, die man zu dem Zeitpunkt, zu dem sie antreten, nachweisen kann. Das ist das eine.

Zum anderen muss man aber auch sagen, die Zahl der Dopingtests hat sich in China stark erhöht. Wir konnten das zwar in großen Teilen gar nicht überprüfen, wie realistisch das alles ist, weil uns natürlich auch dafür keine Dreherlaubnis erteilt wurde - was das Labor betrifft, was die Begleitung von Kontrollen angeht -, obwohl man uns das vorher zugesagt hatte, aber die Zahl der Kontrollen ist erhöht worden, 10.000 im Jahr, im Training, etwa soviel wie in Deutschland. Immer noch viel zu wenig, wenn man weiß, das China viel größer als Deutschland ist, aber da hat sich schon was getan, und ich glaube auch, dass die Chinesen wirklich bemüht sind, von der Zentralregierung her auf jeden Fall, zu sagen, wir wollen ein zum Zeitpunkt der Spiele sauberes Team am Start haben und lieber im Bedarfsfall auf ein paar Medaillen verzichten, weil: Ein einziger positiver Test meinetwegen einer rhythmischen Sportgymnastin im Vorkampf wäre viel, viel schlimmer, als wenn man ein paar Goldmedaillen weniger hätte im internationalen Ansehen Chinas.