Händel-Oper in Aix-en-Provence

Alcinas "Höhepunkt" wird rabiat sexualisiert

Eine Statue von Georg Friedrich Händel in seiner Geburtsstaat Halle an der Saale.
Eine Statue von Georg Friedrich Händel in seiner Geburtsstaat Halle an der Saale. © imago/Westend61
Von Frieder Reininghaus · 03.07.2015
Das Festival d'Aix-en-Provence, Frankreichs Musterveranstaltung für Musiktheater, eröffnete heuer besonders früh und mit Georg Friedrich Händels "Alcina" im Grand Théâtre de Provence und mit der Londoner Regisseurin Katie Mitchell.
Die lieferte eine sauber gearbeitete Inszenierung mit mancherlei Versatzstücken dessen, was im deutschen Staats- und Stadttheater derzeit Standard ist. Dazu gehört, dass bei etlichen Da capo-Sopranarien zur Gesangskadenz kurz vorm Schluss, dem "Höhepunkt", ein weiblicher Orgasmus organisiert wird – als läge nicht gerade ein gewisser Reiz darin, dass so gut wie alle im Theater um die abgründige Beschaffenheit des hohen Tons der Sängerin wissen, dieser aber gerade kein Natur-, sondern Kunstereignis ist.
Kurz: In einer rabiat sexualisierten Versuchsanordnung sorgt eine teilmodernisierte Alcina dafür, dass sie und ihre gleichfalls bedrohlich gealterte Schwester für die fortwährenden Liebesspiele frisch gehalten werden. Die Schwestern sind doppelt vorhanden: Verlassen sie das Schlafgemach im Zentrum der Bühne durch die Doppeltüren in den dicken Wänden, tritt in den Nebenräumen jeweils eine verhärmte alte Frau heraus. Patricia Petibon und Anna Prohaska singen so beglückend leicht, klar und sauber wie der Counter Philippe Jaroussky als doppelt begehrter, aber allzu vergesslicher Liebhaber mit wahrhaft verführerischer Stimme.
Auf "Alcina" folgte ein neues Frauen-a-cappella-Stück von Ana Sokolivic (geboren 1968), "Svadba" ("Hochzeit").
Dann – vor der Wiederaufnahme eines ziemlich uralten, aber immer noch allerliebst geträumten "Sommernachtstraum" (Robert Carsen) "Die Entführung aus dem Serail" in einer Inszenierung des Münchener Residenztheaterdirektors Martin Kušej. Der siedelte den im Text von Gottlieb Stephanie exponierten Konflikt zwischen Orient und Okzident in einer Sandwüste an und fast gegenwartsnah – bei einem großen Beduinenzelt, in dem Bassa Selim mit seinen schwarz vermummten Leuten campiert. Der weiters nicht erklärte Krieg rückt immer näher. Kušej zeigt Konstanze und ihre Begleiter als Geiseln in der Hand von Leuten, die die westlichen Medien pauschal als "Terroristen" bezeichnen – Reisebegleiter Pedrillo wird gleich in der zweiten Szene bis zum Hals im Sand eingegraben.
Die Köpfe der Enthaupteten werden nicht gezeigt
Die Entführung findet dann nicht aus einem architektonisch wertvollen orientalischen Palast statt, sondern als Flucht durch die Wüste. Bei der verdurstet das vom leicht und locker singenden Daniel Behle angeführte Quartett der Westeuropäer beinahe, wird aber (ganz werkgetreu) von Osmin und den anderen schwarzen Kerlen wieder eingefangen. Mozarts Singspiel war, so sehr es immer wieder verharmlost gezeigt wurde, nie "gemütlich", sondern Nachhall der jahrhundertelang so bedrohlichen Türkenkriege. Am Ende glauben die vier Europäer, davongekommen zu sein durch die Huld des im westlichen Sinn aufgeklärten Pasha Selim (der ist aus Sicht der streng gläubigen Männer seiner von Osmin angeführten Leibgarde allerdings ein Renegat). Die schwarzen Gestalten köpfen die, die sie eigentlich zur Grenze bringen sollten, im Off.
Offensichtlich unterm Eindruck des jüngsten Anschlags in der Nähe von Lyon, bei dem ein Mann seinen Arbeitgeber enthauptete, wurde die Schluss-Szene kupiert: Die Köpfe der Opfer dürfen in Aix nicht gezeigt werden. Der Zensur-Eingriff erfolgte nach Rücksprache mit dem Regisseur, der wohl zähneknirschend akzeptierte. Bernard Foccroulle, der Leiter des Festivals in Aix, demonstrierte, was er von der Freiheit der Kunst und der Wahrheit eines zutreffend dargestellten historischen Werks hält. Er versuchte sich zu rechtfertigen mit der Behauptung, sein apodiktischer "Wunsch" sei "keine Zensur – das ist Reife". In etwa so haben Zensoren argumentiert, seit die katholische Kirche dieses Steuerungsmittel des geistigen und kulturellen Lebens im Mittelalter etablierte. Anstatt sich vor den Regisseur seiner Wahl und dessen künstlerisches Konzept zu stellen, hat Foccroulle den Kopf in den Sand gesteckt und sich ziemlich genau so benommen, wie Michel Houellebecq das Verhalten der französischen Eliten in seinem neuen Roman "Unterwerfung" karikierte.
Informationen des Festival d'Aix-en-Provence zu den Inszenierungen von "Alcina" und "Die Entführung aus dem Serail"