H. M. Enzensberger: "Eine Experten-Revue in 89 Nummern"

Von Weberknechten und Herrenbekleidung

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Im Vordergrund ist das Cover des Buches "Eine Experten-Revuel in 89 Nummern" von Hans Magnus Enzensberger. Im Hintergrund ist ein Weberknecht.
In "Eine Experten-Revuel in 89 Nummern" erfährt man Sachen, die man nie wissen wollte. Zum Beispiel, dass es weltweit 6.600 Arten von Weberknechten gibt. © Suhrkamp Verlag / Picture Alliance / blickwinkel / G. Kunz
Von Paul Stänner · 22.06.2019
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Hans Magnus Enzensberger wird im November 90 Jahre alt. In seinem neuen Buch widmet er sich offenem und verstecktem Expertentum in der Gesellschaft. Die Ergebnisse sind so bizarr wie unterhaltsam.
Er galt lange Zeit in linksliberalen Kreisen, in denen Intellektuelle geschätzt wurden, als der Kopf der westdeutschen Intellektuellen. Andere, die mit Intellektuellen weniger am Hut hatten, mochten seinen Kopf und seine Schriften gar nicht: Hans Magnus Enzensberger. Das Kürzel HME stand jahrzehntelang wie ein Markenlogo für kritisches, vor allem aber gewitztes Denken.
HME ist nun auch in die Jahre gekommen. Genau genommen wird er im kommenden November 90 Jahre alt. Hans Magnus Enzensberger ist durch Lebensleistung und Lebensjahre in der glücklichen Rolle des weisen Alten, der sich und anderen nichts mehr beweisen muss. Er muss nur noch neugierig bleiben, wie er immer war, staunen und sich wundern.

Enzensberger macht sich zum Meta-Experten

Was ihn zum Staunen und Wundern bringt, hat Enzensberger in eine Ordnung gebracht. Die einfachste aller Ordnungen ist die Aufzählung. Diese Ordnung ist immer zu begrüßen. Sein neues Buch umfasst 89 Sammelmappen von einer bis zu wenigen Seiten wird jeweils eine besonders auffällige Erscheinung eines Experten oder Expertenstabes beschrieben. Enzensberger nennt es eine "Expertenrevue". Was der Experte tut, nämlich sich ganz intensiv mit einem bestimmten Objekt beschäftigen, hat Hans Magnus Enzensberger nun ebenfalls getan, als Experte für Experten.
Wie Nummerngirls im Kabarett lässt er seine Experten an sich, an uns vorbeitanzen. Skurrile Charaktere tauchen im Scheinwerferlicht auf. Da sind zum Beispiel, mit der Ordnungszahl Römisch 16, die Herren Theo Blick und Christian Komposch, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, alle Weberknechtarten Mittel- und Nordeuropas aufzulisten.
Weberknechte, das sind diese oft fingergroßen langbeinigen Insekten, die mit scheinbar unkontrollierten Bewegungen durch die Wohnung torkeln. Und Frauen aufschreien lassen. Blick und Komposch, Römisch 16, haben eine Liste von 1.314 Weberknechtarten zusammen getragen. Sie sind also Experten auf einem Gebiet, auf dem die meisten von uns gar nicht einmal Laien sein möchten.

Weberknechtarten und kein Ende

Nun könnte man denken, damit ist es gut. Aber HME hat sich von seinen Experten enthusiasmieren lassen. Weiter geht es mit den Weberknechten. Im Enzensberger lese ich, was ich nie wissen wollte: dass es weltweit 6.600 Arten von Weberknechten gibt. Dass sie zur Ordnung der Spinnentiere gehören. Und vieles mehr noch – Enzensberger resümiert:
"Auch den schärfsten Kulturkritiker muss es optimistisch stimmen, dass es, allen angeblichen Sparzwängen zum Trotz, Wissenschaftler wie Blick und Komposch gibt, die an ihrer Mission unverdrossen festhalten."
Wer, wenn nicht Hans Magnus Enzensberger, weiß, wie es um das Gemütsleben von Kulturkritikern bestellt ist. Ihm kann niemand eine kulturelle Freude unterjubeln, die Enzensberger nicht wirklich und von Herzen empfindet. Im Kapitelchen über die Spinnentiere hat HME noch auf ein Faktum hingewiesen:
"Die meisten Weberknechte sind mit dem Junggesellendasein zufrieden und haben lange Beine, mit denen sie die Schwerkraft ohne große Mühe überwinden".

Ironische Funken aus dem Prinzip Nebeneinander

Diese unverbundene Nebeneinanderstellung – das zufriedenstellende Junggesellendasein auf der einen Seite, dann die langen Beine der Weberknechte auf der anderen, A hat mit B nichts zu tun und doch werden sie ordnend nebeneinander gestellt –, so ist das gesamte Buch aufgebaut. Da gibt es ein Kapitelchen über den einst gefeierten Zukunftsforscher Herman Kahn, der einen weltweiten Atomkrieg zumindest für Amerikaner für überlebbar hielt und bis zum Jahr 2176 den Menschen Glück und Wohlstand versprach, wenn sie nur auf ihn hören würden. Ein Spezialist, der sich offenbar zu tief in die Möglichkeiten seiner Forschung verbohrt, sagt Enzensberger und fragt sich:
"Vielleicht brauchte er Drogen wie LSD zu diesen Höhenflügen? Mit 61 Jahren im Staat New York an einem Schlaganfall verstorben."
Es folgt unter der Ordnungszahl Römisch 5 die Geschichte eines Spezialisten für Herrenbekleidung, der nichts kennt, nichts kennen will außer Kragenformen, Krawattenmuster, Anzugstoffen. Er stirbt in seinem alten VW an einem Herzinfarkt:
"Man kann Erwin Weinert nicht von jeder Mitschuld freisprechen. Musste er sich auf die neuesten Trends in der Herrenmode konzentrieren? Hätte er nicht besser daran getan, einen Defibrillator mit auf die Reise zu nehmen?"
Ein Spezialist als tragische Figur! Weil Enzensberger nichts mehr beweisen und lehren muss, kann er die gelegentlich drolligen, gelegentlich absurden Themen des Lebens würdigen. Zum Beispiel Menschen, die beim Sammeln von Abertausenden von Bierdeckeln Spezialisten in ihrer eigenen Welt geworden sind.

Selbst Enzensbergers Großvater war ein Experte

Römisch 20 widmet sich dem tragischen Georg Cantor, einem besessenen Forscher der Mengenlehre, der nie daran zweifelte, dass ihm die Mengenlehre von Gott übergeben worden war: "Kurzum, der große Forscher hat aus dem Labyrinth seiner eigenen Erfindungen nie wieder herausgefunden."
Römisch 35 widmet sich einem Tonmeister, der die Welt des Rauschens bearbeitet, das die meisten von uns gar nicht wahrnehmen. Und der dazu eine Unzahl von Begriffen verwendet, die fast allen von uns nichts bedeuten: "Abklingzeit, Näselformat, Badewannen- oder Kuhschwanzfilter."
Römisch 17 widmet sich dem Großvater von Hans Magnus Enzensberger, dessen großer Moment kam, als er 1923 Vorsitzender der deutschen Sektion des Esperanto-Weltbund wurde, der einer menschheitsverbindenden Kunstsprache zum Durchbruch verhelfen wollte. Der Großvater war ein Spezialist, für den Enkel aber eben auch ein Träumer, dessen Spezialgebiet sich nie durchsetzte.

Der Scharfrichter wird von Laien verdrängt

Römisch 57 widmet sich dem Scharfrichter, ursprünglich ein singulärer Spezialist in einem Außenseiterberuf. Enzensberger wandert durch die Geschichte dieser blutigen Rechtspflege und endet gefasst, aber zynisch:
"Allerdings hat sich im 20. Jahrhundert eine fatale Demokratisierung der Hinrichtung durchgesetzt. Bei immer mehr Massakern und Genoziden nahmen einzelne Laien und Gruppen den Beruf des Henkers selbst in die Hand, so dass dieser Experte seine Sonderstellung einbüßte und entbehrlich wurde."
Wie schon erwähnt, er muss nichts beweisen, er staunt nur noch und wundert sich. Mit ihm betreten Leser und Leserin eine Art Wunderkammer des menschlichen Geistes. Sie lassen sich nieder und werden überrascht von einer Castingshow erstaunlichster Spezialisierungen, meist versehen mit einer guten Portion Besessenheit auch ohne Bezug zum Nutzen. Das ist unterhaltsam, gelegentlich sogar belehrend. Ein verlässlicher Enzensberger eben: kritisch und gewitzt gedacht.
Ein wunderbares Geschenk für alle, die in diesem Jahr 90 werden. Und auch für alle, die das anstreben.

Hans Magnus Enzensberger: "Eine Experten-Revue in 89 Nummern"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
334 Seiten, 24 Euro

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