György Dragomán: "Der Scheiterhaufen"

Rätsel, Gespenster und Gewalt

Menschen stehen nachts um ein Lagerfeuer herum.
Eine Großmutter, die vielleicht eine Hexe ist, ist eine der Hauptfiguren in Dragománs Roman. Sie verbrennt immer wieder Zweige in einem Lagerfeuer. © AFP / Elvis Barukcic
Von Jörg Plath · 15.01.2016
Geschickt erzählt György Dragomán in seinem zweiten Kinderbuch "Der Scheiterhaufen" aus dem Leben eines 13-jährigen Mädchens. Nach einem tödlichen Verkehrsunfall ihrer Eltern wird sie von einer Alten aus dem Internat abgeholt, die behauptet, ihre Großmutter zu sein. Vor dieser Folie entfaltet er eine Geschichte über zwei Diktaturen und das Leid, das sie Familien antun.
Der erstaunlichen Zahl von großartigen Kindheitsbüchern aus Ungarn, verfasst von Imre Kertész, Péter Nádas, Ferenc Barnás, Szilárd Borbély und anderen, fügte György Dragomán vor neun Jahren sein Debüt "Der weiße König" hinzu. Nun erzählt in seinem zweiten Roman "Der Scheiterhaufen" wieder ein heranwachsender Mensch von Gewalt.
Zu Beginn wird die dreizehnjährige Emma, deren Eltern bei einem Verkehrsunfall gestorben sind, von einer Alten, die sie nicht kennt, die jedoch ihre Großmutter zu sein behauptet, aus dem Internat geholt. In einer rumänischen Provinzstadt wächst die Waise in einem Haus voller Geheimnisse heran: Der Großvater, der als Spitzel des Geheimdienstes verdächtigt wurde und sich erhängte, geht in ihm hörbar und sichtbar herum, eine Holzhütte im Garten darf Emma nicht betreten, und die alte Frau, deren Identität als Großmutter lange unsicher bleibt, besitzt hexenhafte Züge. Sie malt Zeichen in Mehl, sperrt die Holzhütte mit kleinen Zähnen ab, die zubeißen können, und verbrennt auf einem Scheiterhaufen Zweige, auf die sie "Freude" und "Kummer" geschrieben hat. Ihre Persönlichkeit fesselt Emma, die zu einer Schönheit heranwächst.
Um zwei Diktaturen geht es im Roman
Von etwas mehr als einem Jahr erzählt der Roman. Mit den Schüssen auf Demonstranten während der Revolution, deren Opfer der Geheimdienst in einem Massengrab verscharrte, ist das Schicksal von Emmas Großvater verbunden, ihre aufbegehrenden Eltern litten unter der Repression im Kommunismus. Die Großmutter erzählt zudem in kurzen kursiven Passagen und stets überraschend von ihrer besten Freundin, einer Jüdin, die sie vor den faschistischen Häschern verstecken, aber nicht retten konnte.
Zwei Diktaturen und die dazugehörigen Leidenserfahrungen wie Verrat, Mord, Selbstmord, zeitweiliges Irrewerden und Schuldgefühle führt Dragomán zusammen. Mit der neuen Freiheit nach der Revolution gehen Emmas Lehrer verschieden um: Onkel Vorhang, der seinen Spitznamen wegen eines Toupets trägt, hält an den kommunistischen Schulbüchern fest, der Zeichenlehrer erteilt einem Denunzianten eine schmerzhafte Lektion und lässt eine junge Frau nackt vor den Schülern Modell stehen. Am Ende kulminiert die Wut über die unvollständig gebliebene Revolution in einem Tribunal, dem beinahe die Großmutter zum Opfer fällt.
Mühelos stellt Dragomán das Kleine neben das Große
Über weite Strecken des Romans scheint es, als ob Dragomán, 1973 im rumänischen Siebenbürgen geboren und 1988 nach Ungarn übergesiedelt, alles kann: den Zug der Ameisen über Emmas Hand fesselnd beschreiben, ebenso die Gefühlswelt der Heranwachsenden, die Riten der Großmutter, die magischen Ereignisse. Mühelos stellt er das Kleine und das Große, das Reale und das Imaginäre nebeneinander.
Manchmal aber tut er dann doch ein bisschen zu viel. Einige beichtähnlichen Erinnerungspassagen der Großmutter schrammen an der Kolportage vorbei und in der zweiten Hälfte besitzt der Roman Längen sowie stellenweise eine störende Überdeutlichkeit. Die alptraumhafte Intensität des Debüts "Der weiße König" erreicht er nicht. Lesenswert ist "Der Scheiterhaufen" gleichwohl - György Dragomán kann fast alles.

György Dragomán, Der ScheiterhaufenAus dem Ungarischen von Lacy KornitzerSuhrkamp Verlag, Berlin 2016495 Seiten, 24,95 EUR
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