"Gute Schulen spielen in einer anderen Liga"

Moderation: Jürgen König · 29.05.2008
Der Schulexperte Peter Fauser glaubt, dass gute Schulen mehr bieten als bloßen Unterricht. Dort würde vieles passieren, "was die Schule interessant und lebenswert macht". Zudem hätten sie gelernt, mit Vielfalt umzugehen, Mitbestimmung und Verantwortung zu fördern sowie einfühlsam das Umfeld der Schule miteinzubeziehen. Fauser ist Mitglied der Jury für den Deutschen Schulpreis.
Jürgen König: Was ist eine gute Schule? Nach welchen Kriterien werden die Schulen bewertet? Wie lässt sich Schulqualität überhaupt überprüfen? (Das) fragen wir Prof. Peter Fauser vom Lehrstuhl für Schulpädagogik und Schulentwicklung der Universität Jena. Denn: Peter Fauser ist Mitglied der Jury für den Deutschen Schulpreis. Der wird in diesem Jahr zum dritten Mal verliehen. Die Bewerbungsfrist endete am 30. April. Beworben haben sich 250 Schulen, davon werden etwa 20 Schulen von einer Expertengruppe aufgesucht. Peter Fauser wird insgesamt vier Schulen besuchen. Guten Tag, Herr Fauser!

Peter Fauser: Guten Tag, Herr König!

König: Was macht denn eine gute Schule aus?

Peter Fauser: Wenn ich es ganz einfach sage, kann man sagen, eine gute Schule verbindet zwei Ziele, die in Spannung zueinander stehen. Nämlich sie erreicht, dass ihre Schülerinnen und Schüler, und zwar unterschiedlichster Begabungen, hohe Leistungen erreichen, und sie hat ein sehr gutes Klima.

Klima ist aber nicht nur sozusagen ein Wärmebegriff, sondern bezeichnet ganz konkrete Qualitäten. Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich angenommen. Sie wissen, wo es langgeht. Sie wissen, was von ihnen erwartet wird, und sie fühlen sich respektiert.

Diese zwei Ziele, die kann im Grunde bei allen guten Schulen nachweisen. Aber ganz so einfach machen wir es uns nicht im Schulpreis. Wir haben im Deutschen Schulpreis sechs Qualitätsbereiche definiert, die wieder mit Unterkriterien besetzt sind. Und die sechs Bereiche werden untersucht, wenn wir die besten Schulen suchen.

König: Erzählen Sie doch noch mal ein bisschen im Detail. Nach welchen Kriterien bewerten Sie die Schulen und Unterricht?

Peter Fauser: Der erste Bereich heißt Leistung, der zweite heißt Umgang mit Vielfalt, der dritte heißt Unterricht, der vierte heißt Verantwortung, der fünfte heißt Schulleben, und der sechste heißt Schulentwicklung/Schulmanagement. Das sind an sich sechs Bereiche, die sechs Kategorien, die in der allgemeinen internationalen Schulentwicklung und Bildungsforschung geteilt werden. Das heißt, das ist Konsens unter den Fachleuten, nicht nur in Deutschland.

Aber der Schulpreis setzt noch ein bisschen besondere Akzente. Wenn wir von Leistung sprechen, dann meinen wir nicht nur den sogenannten Output, das Ergebnis, das Prüfungsergebnis in den Kernfächern, sondern wir meinen das ganze Spektrum von beachtenswerten Leistungen der Schülerinnen und Schüler auf den verschiedensten Feldern. Wenn zum Beispiel eine Schülergruppe zum wiederkehrenden Datum der sogenannten Reichskristallnacht einen Gedenkmarsch organisiert und dabei die ganze Stadt mobilisiert, dann sind das im Kontext des Schulpreises wichtige Leistungen.

Natürlich schauen wir uns daneben auch noch was anderes an, nämlich die sogenannten harten und objektiven Daten. Nämlich, wir schauen wie viel Schülerinnen und Schüler kommen zu welchen Abschlussergebnissen, wie hoch ist das Ergebnis zum Beispiel beim Abitur im Landesvergleich, und wie ist das Ergebnis im Vergleich bei einem sogenannten theoretischen, fairen Vergleich. Damit ist gemeint, von welchen Ausgangsbedingungen startet die Schule, gibt es einen sogenannten Creaming-Effekt, das heißt, gehen vor allem die Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern in diese Schule, oder sind es belastete Schülerinnen und Schüler.

Wir schauen ganz genau, und das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt, nicht nur auf die Leistung der Schüler, sondern wir schauen auf die Förderleistung der Schule als Ganzer.

Der zweite Bereich, Umgang mit Vielfalt, da geht es um die Frage, wie schafft es eine Schule, die Kinder angesichts ihrer großen Unterschiede, der Unterschiede in Herkunft, in Glaubensüberzeugungen, in Begabungsniveau, in Interessen alle gleichermaßen gut zu fördern und sie zu integrieren. Es gibt ja heute Schulen, die haben 90 Prozent Kinder aus Elternhäusern, die nicht in Deutschland sind, die andere Sprachen sprechen. Das ist eine wichtige Frage. Wir sagen, gute Schulen müssen mit dieser Vielfalt produktiv umgehen. Das ist leicht gesagt und schwer getan. Aber alle guten Schulen können das.

König: Indem sie was machen?

Peter Fauser: Indem sie, ich sage Ihnen ein Beispiel aus der Preisträgerschule des letzten Jahres, die Kleine Kielstraße in Dortmund. Die Schule lädt die Eltern schon neun Monate vor Schulbeginn ein und versucht, die Kinder und die Eltern kennenzulernen. Und sie hat für die Betreuung der oft nicht deutschsprachigen Eltern Eltern aus früheren Jahrgängen, die sich ihrer annehmen. Es gibt eine Elternschule, die die Voraussetzungen dafür liefert, dass die Eltern die Schule wirklich selber verstehen und begleiten können. Das ist eine solche Maßnahme.

Dann, beim Unterricht, schauen wir, ob Schulen den viel diskutierten Paradigmenwechsel vom Lehren zum Lernen wirklich vollzogen haben. Sie kennen ja sicher von Kästner diesen Spruch "Wenn alles schläft und einer spricht, da nennt man dieses Unterricht." Das ist das Bild der alten Schule. Und gute Schulen sind davon weit entfernt. Das steht das Lernen im Mittelpunkt. Das heißt, wenn Sie da reinkommen, ist es nicht so, dass vorne der Lehrer steht. Sondern da sehen Sie, dass Schüler individuell und in Gruppen mit ganz unterschiedlichen Dingen sich beschäftigen.

König: Ich habe vorgestern an dieser Stelle mit der Pädagogin Enja Riegel gesprochen ( Gespräch als MP3-Audio ). Und die sprach von einem, wie sie es nannte, Kartell aus konservativen Politikern, konservativen Lehrern und konservativen Eltern. Jetzt nur auf die Lehrer bezogen, weil Sie gerade davon gesprochen haben, wie gehen die Lehrer um mit dieser Prüfung, die es ja doch irgendwie ist, wenn Sie da reinkommen und den Unterricht begutachten?

Peter Fauser: Zunächst muss man sagen, dass wir sicher eine Vorauswahl von Schulen vorfinden. Natürlich, die Schulen bewerben sich aus eigener Entscheidung. Das heißt, die wissen auch, dass sie besucht werden. Wenn wir eine Schule besuchen, haben wir die Bewerbungsunterlagen studiert. Wir haben über die Schule diskutiert. Ich guck mir zum Beispiel auch die Internetauftritte der Schule an, informiere mich auch über das lokale Umfeld, gibt es da konkurrierende andere Schulen usw. Das heißt, wir kommen mit einem ziemlich hohen Stand des Vorwissens und schauen dann ganz genau hin. Und meine Erfahrung ist, dass allein diese Vorbedingungen dafür sorgen, dass die Kolleginnen und Kollegen wirklich das Gefühl haben, es ist eine Begegnung von Experte oder Expertin zu Experte und Expertin.

König: Es fehlen noch drei Kriterien, nach denen Sie Schulen bewerten.

Peter Fauser: Ja. Verantwortung. Wir fragen, welche Gelegenheiten, welche Formen gibt es in der Schule, dass Kinder und Jugendliche selber Verantwortung zunächst für ihr eigenes Lernen, dann aber auch für das Gemeinwesen übernehmen. Auch da ein Beispiel, das mir auch wieder in Hildesheim begegnet ist. Da gibt es einen Lehrer-Schüler-Ausschuss, der in keiner Schulverfassung steht, aber den die Schule eingerichtet hat. Das sind Oberstufenschüler und -schülerinnen, die mit Lehrern sich treffen in einem relativ kleinen Kreis und Vorschläge zur Verbesserung der Schule erarbeiten. Und diese Vorschläge werden in den Konferenzen ernsthaft berücksichtigt.

König: Das klingt so simpel.

Peter Fauser: Das klingt simpel, aber es erfordert von den Lehrern, glaube ich, auch eine unerhöhte Fähigkeit, sich zurückzunehmen und offen zu sein. Und zwar ist die Idee von den Schülern gekommen. Oder in Neckartenzlingen gibt es ein Gymnasium, das hat ein eigenes Filmfestival gegründet und hat damit Preise geholt und macht einmal im Jahr eine Woche lang, ein Gymnasium wohl gemerkt, die Schule als Polis. Das heißt, da wird die gesamte Schule in ein fiktives Gemeinwesen verwandelt, und erstmals sind alle gleich. Und auch ein Lehrer zum Beispiel kriegt dann einen Auftrag und muss eine Schneiderwerkstatt aufmachen oder muss töpfern oder sonst was.

Es gibt auch da, ich will es mal ein bisschen plakativ sagen, gute Schulen spielen sozusagen in einer anderen Liga. Die haben einen Sprung in eine neue pädagogische Epoche gemacht. Deshalb sage ich auch gerne, der Deutsche Schulpreis ist so was wie ein pädagogischer Zukunftspreis.

Schulleben, ich glaube, da kann sich jeder was vorstellen. Das ist einfach die Frage, Schule ist nicht nur Unterricht, sondern es soll vieles passieren, was die Schule interessant und sozusagen lebenswert macht.

Und schließlich das Letzte, was mir ganz besonders wichtig ist, das Thema Schulmanagement, Schulentwicklung. Es gibt heute bei den guten Schulen, kann man sagen, die Regel, dass die Schule wie ein Unternehmen geführt wird, allerdings mit einer, wie ich das nenne, integrativ demokratischen Führungsqualität. Das heißt, die Schulleiterinnen und Schulleiter, zu denen ja auch Enja Riegel gehört, sind fähig und in der Lage, Verantwortung abzugeben, aber gleichzeitig auf die Standards im Bereich der Leistung zu achten.

Und auch da muss man sagen, das ist ein Riesenschritt aus der Schule als einer nachgeordneten Behörde, wie sie verwaltungsrechtlich immer noch gesehen werden kann, zu einem eigenen Unternehmen, das eine eigene sozusagen adaptive Intelligenz entwickelt im Verhältnis zu ihrer Umgebung.

König: Bei der ersten Verleihung des Deutschen Schulpreises war überhaupt kein Gymnasium unter den Gewinnern. Im letzten Jahr dann schon. Dennoch, wenn man bedenkt, als wie erstrebenswert es ja immer noch gilt, ein Gymnasium zu besuchen und Abitur zu machen, dann ist das doch erstaunlich, dieses relativ schlechte Abschneiden der Gymnasien. Woran liegt das?

Peter Fauser: Na ja, das Erste ist ein historischer Grund. Das Gymnasium ist vor 150 oder fast 200 Jahren gegründet worden, als ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung zum Studium zugelassen werden wollte. Das Gymnasium hat ja das Standesprivileg des Adels abgeschafft, war insofern eine demokratische Errungenschaft. Aber es hat sich von dieser Ausrichtung auf eine verschwindend kleine Minderheit im Kern immer noch nicht wirklich gelöst.

Ein zweiter Grund ist strukturell: Gymnasien können die Schülerinnen und Schüler, die bei ihnen nicht zurechtkommen, abgeben. Das machen sie auch. Und folglich entsteht ein Creaming-Effekt, das heißt, die Sahne wird weggenommen und der sogenannte Rest bleibt. Die Konsequenz ist, dass Gymnasien, viele Gymnasien nicht gelernt haben mit Vielfalt umzugehen.

Und dritter Punkt: Gymnasien haben es, weil sie eine so unangefochtene Stellung genießen, im Grunde immer noch nicht nötig, wirklich Rechenschaft über ihre Leistung zu geben, anders als Gesamtschulen. Ich würde nie sagen, Gesamtschulen sind per se besser als Gymnasien. Aber viele Schulen, gerade neu gegründete in den neuen Bundesländern, haben 10, 15 Jahre intensiv daran arbeiten müssen, ihre Stellung in der Öffentlichkeit zu sichern und zu zeigen, dass sie Leistungen erbringen.

König: Stehen unter ganz anderem Druck?

Peter Fauser: Die stehen unter ganz anderem Evaluationsdruck und haben gelernt, damit umzugehen.

König: Eines fragt man sich ja. Sie haben jetzt so viele Beispiele genannt von Schulen, die den Unterricht anders gestalten und das mit großem Erfolg. Warum werden solche Konzepte eigentlich nicht flächendeckend umgesetzt?

Peter Fauser: Ja, das scheint auf den ersten Blick völlig plausibel, dass man das nicht verstehen kann. Aber ich mach da gerne einen Vergleich, wo das deutlich wird. Man könnte ja sagen, wenn Sie die Berliner Philharmoniker sehen und hören, dann wissen Sie, was ein exzellentes Orchester ist. Warum machen es die anderen nicht genauso? Antwort: Diese Qualität entsteht durch eine anhaltende, über Jahre reichende, intensive Entwicklungsarbeit. Und das ist bei guten Schulen genauso.

Ich kenne keine Schule, keine gute Schule, die nicht zehn bis zwölf Jahre harte Entwicklungsarbeit hinter sich gebracht hat, und zwar mit dauernder, hoher Anstrengung. Und anders geht es nicht. Und das kann jede Schule nur für sich selber machen. Warum? Weil jede Schule mit anderen Kindern und Jugendlichen zu tun hat. Das wird heute immer extremer, die Unterschiede. Und weil die Lehrer selber sich dieses Handwerkszeug erst aneignen müssen.

König: Und was sagen Sie zu dem "Kartell aus konservativen Politikern, Lehrern und Eltern", von dem Frau Riegel spricht?

Peter Fauser: Ob ich vom Kartell sprechen würde, weiß ich nicht. Aber in einem Punkt, glaube ich, trifft sie einen wahren Kern. Nämlich, ich frage mich, ob die deutsche Gesellschaft nicht ein zu großes Interesse an Unterschieden hat und ein so geringes Interesse daran, alle gleichermaßen zu fördern. Wir reproduzieren Unterschiede, weil sie natürlich Privilegien verlängern, und das spielt hier eine ganz große Rolle.

Ich will aber noch sozusagen zur Ehrenrettung von Lehrern und Eltern sagen, Eltern haben selber ja ein sehr eingeschränktes Bild von guter Schule. Sie haben die Schule, die sie selber erlebt haben als Bild im Kopf. Und damit können sie eine gute Schule nicht mal erkennen heute. Das heißt, da ist ein ganz großer Aufklärungsbedarf, und bei den Lehrern und Lehrerinnen ein ganz großer Bedarf an professioneller Fortbildung. Von nichts kommt nichts.

König: Vielen Dank! Was macht eine gute Schule aus? Ein Gespräch mit Prof. Peter Fauser vom Lehrstuhl für Schulpädagogik und Schulentwicklung der Universität Jena. Peter Fauser ist auch Mitglied der Jury für den Deutschen Schulpreis, und er ist Mitherausgeber des Buches "Was für Schulen! - Profile, Konzepte und Dynamik guter Schulen in Deutschland", jetzt erschienen im Friedrich Verlag. In einer guten Stunde, um fünf vor zwölf, berichten wir von Schülern, die sich ganz ohne Schule aufs Abitur vorbereiten. Das geht nämlich auch. Zuvor aber Dank an Peter Fauser!

Peter Fauser: Bitte schön!