Guerillaführer von hohen Graden

04.01.2007
"Wer war Andreas Baader?" Die Autoren haben viel Material zusammen getragen, um diese Frage zu beantworten. Aus den Geschichten, die über Baader berichtet werden, formt sich ein Bild jenes Mannes, ohne den der Terrorismus der RAF nicht solche Dimensionen angenommen hätte wie in den Jahren bis 1977.
Ein Gefängniswärter erinnert sich an eine Szene in Stuttgart-Stammheim, Mitte der 70er Jahre. Im Hochsicherheitstrakt des - angeblich best gesicherten – Gefängnisses sitzt die Führungscrew der RAF. Die erste Generation. Eines der RAF-Mitglieder bekommt Besuch: Jan-Carl Raspe. Seine Mutter ist da, eine Rentnerin aus der DDR. Der Gefängniswärter kündigt sie an. Aber sie muss noch warten.

Baader fragt Raspe höhnisch: "Was, du hast ne Mutter?" Und hält ihn zurück. Erst nach mehrmaligen Interventionen des Wärters lässt Baader Raspe gehen. Als Raspe von der Zusammenkunft mit seiner Mutter zurückkommt, hat Raspe eine Schale Erdbeeren bei sich, die ihm seine Mutter mitgebracht hat. Baader dreht die Schale um, die Erdbeeren fallen heraus.

"Dann hat er sich oben auf die Tischkante gesetzt und sich nach und nach die größten herausgefischt. Das Grünzeug hat er zurück auf den Haufen geschnipst. Als er schließlich genug hatte, war das das Zeichen für die anderen. Dann sind die anderen hin und haben sich auch Erdbeeren genommen."

Genau so funktioniert die Wolfsfütterung. Erst bedient sich der Leitwolf, dann sendet er ein Zeichen aus und die anderen dürfen sich an den Rest machen. Eine aufschlussreiche Szene über die selbst ernannte revolutionäre Avantgarde. Während die Unterstützerszene der RAF "draußen" die Helden der Bewegung verehrt, beobachtet der Gefängniswärter "drinnen", wie sich die Top-Terroristen widerspruchslos ihrem Leitwolf Andreas Baader unterordnen.

Was hatte die Studentenbewegung auf ihre Fahnen geschrieben? Befreiung? Emanzipation? Gleichberechtigung und Herrschaftsfreiheit? Der Widerspruch zwischen dem Bewegungsanspruch und der Wirklichkeit der "Baader-Meinhof-Gruppe", wie sie einmal genannt wurde, könnte größer nicht sein.

"Wer war Andreas Baader?" Danach fragt die Biographie von Klaus Stern und Jörg Hermann. Beide Autoren lassen keinen Zweifel daran, dass Baader mit Revolution im Grunde wenig im Sinn hatte. Die Studentenbewegung bot ihm, der ziellos in den Tag lebte und begierig darauf war, Grenzen zu überschreiten, unversehens ein Feld für neue Abenteuer, für Kampf, Selbsterfahrung und Selbstinszenierung auf einer immer größer werdenden Bühne.

Die Frage, wer Baader war, verfolgt Klaus Stern (der über die Zeit bis zur Inhaftierung schreibt) bis in die familiäre Vorgeschichte zurück. Der Vater im Krieg vermisst. Die Mutter zunächst in großer wirtschaftlicher Not. Baader wächst bei seiner Großmutter, dann bei seiner Mutter auf. Ein schwuler Onkel ist Tänzer. Von ihm scheint Baader gelernt zu haben, wie man sich effektvoll in Szene setzt. Seine Mutter versucht alles, damit er einen ordentlichen Schulabschluss schafft. Doch Baader ist nicht zu bändigen. Immer wieder fliegt er raus oder haut ab.

Und die Mutter versucht es von neuem. Sie setzt auf ihn und meint es gut mit ihm. Baader bekommt von ihr keine Grenzen gesetzt. Das ist das Problem. Baader ist schlagkräftig, er sieht gut aus und kann andere in seinen Bann ziehen. Er prahlt, dass er ein Buch schreibt, einen Film drehen will. In Wirklichkeit arbeitet er nicht, schnorrt sich durchs Leben. Ein Hochstapler und Kleinkrimineller. Solche gibt es viele. Wären da nicht die 60er Jahre gewesen, die APO und die fiebrigen Studentenbewegten, hätte eine größere Öffentlichkeit von ihm wohl keine Notiz genommen.

Bei den Schwabinger Krawallen 1962 in München wird er festgenommen. Noch sagt er bereitwillig aus, als er von der Polizei befragt wird. Er schlägt sich gerne, mit Politik hat das nichts zu tun. Wenn er einen anderen anschwärzen kann, um sich selber Vorteile zu verschaffen, tut er das, ohne mit der Wimper zu zucken. Baader verkehrt in Künstlerkreisen, Schwule verlieben sich in ihn, er genießt das – besonders dass er sie mit seiner Zurückweisung quälen kann. Er zieht nach Berlin um, schnorrt sich weiter durchs Leben, lässt sich von seiner Freundin aushalten, behandelt sie wie der letzte Dreck, zeugt mit ihr ein Kind, kümmert sich darum aber nur, wenn es ihm passt. Der Mann, der bald die revolutionäre Avantgarde der Studentenbewegung darstellen wird, ist im Grunde ein barbarischer Haustyrann.

Am 2. Juni 1967 sitzt er in Bayern im Gefängnis – wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Aber danach mischt er sich rasch unter die rebellierenden Studenten und ist bald berühmt. Er verkehrt in der Kommune 1, lernt die "wichtigen Figuren" kennen und meldet 1968 mit der Brandstiftung in einem Frankfurter Kaufhaus den Anspruch an, die Nr. 1 der Bewegung zu sein.

Die Haftzeit danach ist für Baader furchtbar – denn "draußen" bekommt die Revolte nach dem Attentat auf Dutschke eine ganz neue Dynamik. 1969 wird er vorübergehend entlassen, ist nun mit Gudrun Ensslin zusammen. Beide fühlen sich wie Liebknecht und Luxemburg. Als Baader 1970 wieder inhaftiert wird, gibt es nur noch ein Thema: die Befreiung aus der Haft. Als sie – von Ulrike Meinhof organisiert – am 14. Mai 1970 gelingt, schlägt die Geburtsstunde der RAF: der Weg in den Untergrund, Attentate, Erklärungen. 1972 werden sie alle gefangen.

Vermeintlich ist damit die Terrorgefahr gebannt. Doch in der Haft zeigt sich, dass Andreas Baader ein Guerillaführer von hohen Graden ist. Mit einer Durchsetzungskraft, Energie, Härte und Intelligenz, die seine Gegner noch heute bewundern, zwingt er dem Staat, der Öffentlichkeit und dem linksliberalen Milieu der Bundesrepublik seinen Kampf auf. Und das ist – jenseits aller revolutionären Phrasen – der Kampf um seine Befreiung aus der Haft.

Baader baut über seine Anwälte ein hochprofessionelles Informationssystem auf, durch das er nicht nur mit den Gefangenen kommuniziert, sondern Themen und Begriffe in der öffentlichen Diskussion besetzt. Isolationsfolter: ein Kampfbegriff, der mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat. Denn die RAF-Gefangenen haben Freiheiten, die für andere Häftlinge undenkbar sind. Die Politik wagt nicht, das offen zuzugeben. In der Auseinandersetzung um die Haftbedingungen baut sich die zweite Generation der RAF auf, die entsprechend Baaders Geheiß aus seinem "Stammheimer Führerbunker", wie Jörg Hermann schreibt, vor allem eine Aufgabe hat: die Gefangenen zu befreien.

Dass Baader und seine Getreuen nach dem gescheiterten Befreiungsversuch im Oktober 1977 Selbstmord begehen, ist die logische Konsequenz der Entwicklung. Dass sie sich selbst umgebracht haben: Daran gibt es inzwischen keine vernünftigen Zweifel mehr.

"Wer war Andreas Baader?" Die Autoren haben viel Material zusammen getragen, um diese Frage zu beantworten. Vor allem haben sie viele Weggefährten aufgesucht, die Baader kannten oder irgendwie mit ihm zu tun hatten. Das präsentieren sie mit einem Stolz, der bei der Lektüre sauer aufstößt. Zuweilen hat man den Eindruck, dass ihnen die Präsentation der Gesprächspartner wichtiger ist als das, was sie gesagt haben. Da lesen wir, wie jemand heute, nach über 30 Jahren aussieht, wie er wohnt oder dass der Richter des Stammheim-Prozesses, Theo Prinzing, am Ende des Interviews Hühnersuppe und ein Croissant isst. Stolz verkündet Klaus Stern, dass er Horst Herold interviewen konnte: "An diesem Novembertag im Jahr 2001 in der Lobby des Hotels ‚Vier Jahreszeiten’ in München macht der damals 78-jährige eine Ausnahme von seinem Schweigen." Was er dann zu sagen hat, ist allerdings nicht übermäßig erhellend. Dass Herold vor Baaders Fähigkeiten als Guerillaführer Respekt hatte, ist seit Jahrzehnten kein Geheimnis.

Die Biographie enthält dennoch viele Informationen über Andreas Baader – nicht unbedingt Neuigkeiten, aber aus den Geschichten, die über Baader berichtet werden, formt sich ein Bild jenes Mannes, ohne den der Terrorismus der RAF nicht solche Dimensionen angenommen hätte wie in den Jahren bis 1977. Dennoch bleibt ein unangenehmer Beigeschmack: Es ist der Stil, in dem die Biographie geschrieben ist. Etwas zu locker, etwas zu flott journalistisch aufbereitet. Manchmal verfallen die Autoren gar in den Sympathisantenjargon der 70er und nennen Baader nur bei seinem Vornamen – Andreas. Auch wenn das Buch interessant zu lesen ist: Es gibt ernsthaftere Versuche, das Phänomen Baader und RAF zu ergründen als diese Biographie, die Baader als einen interessanten Stoff aufbereitet. Das fängt schon mit dem Titel an: "Das Leben eines Staatsfeindes". So sah sich Baader selbst gern. Aber müssen Biographen dieser Selbststilisierung auf den Leim gehen? In diesem Untertitel erliegen die Autoren und ihr Verlag der suggestiven Kraft des Terroristen, die er selbst als Toter offenbar noch hat.

Rezensiert von Winfried Sträter


Klaus Stern, Jörg Hermann: Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes
dtv, München 2006, 360 Seiten, 15 Euro