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Joschka Fischer
"Der Abstieg des Westens"

Der ehemalige deutsche Außenminister und Grünen-Politiker Joschka Fischer sieht Europa am Scheideweg zwischen Erneuerung und Selbstaufgabe. Die kulturelle und geopolitische Dominanz des Westens sei am Ende, schreibt er in seinem neuen Buch.

Von Marcus Pindur | 12.03.2018
    Ex-Bundesaußenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) sitzt am 12.03.2015 im Rahmen des Literaturfestivals Lit.Cologne in Köln (Nordrhein-Westfalen) auf der Bühne, wo er über sein neues Buch "Scheitert Europa?" spricht.
    Joschka Fischer, ehemaliger Bundesaußenminister (dpa)
    Dies ist ein zutiefst skeptisches Buch. Joschka Fischer hat tiefe Zweifel daran, ob Europa in einer sich rapide verändernden Welt in Zukunft auch seine Interessen wahren kann. Man kann davon ausgehen, dass der Autor das Buch zu einem Gutteil unter dem Schock der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten geschrieben hat: "Sollte die US-Außenpolitik unter Trump zum Risikofaktor werden, dann wird das ganze System nicht mehr funktionieren", schreibt Fischer.
    Und weiter: "Eine Jahrzehnte währende, erfolgreiche Ordnung würde dadurch ohne wirkliche Not zum Untergang verdammt, denn es ist weit und breit keine andere Macht sichtbar - nicht China, nicht Indien, nicht Europa und nicht Russland -, die in der Lage wäre, gegenwärtig die globale Rolle der USA zu übernehmen und in deren sehr große Schuhe als Ordnungsmacht zu schlüpfen."
    Deutschland im amerikanischen Windschatten
    Wenn die USA sich aus ihrer Führungsrolle mir nichts, dir nichts verabschieden, so Fischer, dann steht auch die Existenz dessen, was wir Westen nennen, auf dem Spiel. Und ohne die USA keine europäische Selbständigkeit.
    Zu sehr, so Fischer, seien die Europäer und insbesondere die Deutschen in den vergangenen Jahren im amerikanischen Windschatten gefahren. Die Amerikaner waren für die gemeinsame Sicherheit und deren schmutzige Seiten zuständig, während die Europäer allzu oft am Spielfeldrand standen und wohlfeile Manöverkritik übten.
    Doch dies ist nach Fischers Einschätzung vorbei: "Die Zeit, in der diese transatlantische Solidarität wie selbstverständlich galt, ist dahin und wird auch nach Trump nicht zurückkehren."
    Zerstörerische Kraft des Nationalismus
    Joschka Fischer war Zeuge in erster Reihe, als die Europäer in der Jugoslawien-Krise versagten und erst Bill Clintons Führung unter dem Dach der Nato den serbischen Diktator Slobodan Milošević zum Einlenken zwang. Das hat offensichtlich einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen - was die Handlungsfähigkeit der Europäer und die Notwendigkeit des Bündnisses mit den USA anbelangt.
    Man kann Fischer vorwerfen, er sei zu skeptisch, gar pessimistisch. Die USA werden nicht mehr den gesamten Preis als globale Ordnungsmacht zahlen wollen. Aber einer gesellschaftlichen und politischen Mehrheit in Amerika ist sehr wohl bewusst, dass die Sicherheit und die Prosperität der USA nur durch ein globales Bündnissystem gesichert werden können. Und dass es dabei kaum bessere Partner als die Europäer gibt.
    Doch mit seiner Analyse liegt Fischer ansonsten sehr richtig. Die Risiken in einer Welt des Übergangs, wie Fischer sie nennt, sind real. Und sie sind innen- und außenpolitischer Natur.
    Die zerstörerische Kraft eines neuen Nationalismus bricht sich in Gestalt Le Pens, Orbans, der FPÖ, der AfD und des Brexit Bahn. Der innere Konflikt im Westen zwischen Nationalisten und Internationalisten, zwischen Verteidigung des Status quo und Mut zur Neugestaltung wird Fischers Ansicht zufolge noch lange gären:
    "Zwar haben die Neonationalisten nicht viel mehr zu bieten als die Ängste vor der Zukunft und die Sehnsucht nach einer kleinräumigen, überschaubaren Idylle à la Astrid Lindgrens Bullerbü, die Europa aber niemals war. Aber Ängste und Sehnsüchte sind Emotionen und deshalb politisch in ihrer Wirkungsmächtigkeit niemals zu unterschätzen. Vom Ausgang dieser Schlacht zwischen Nationalisten und Internationalisten wird allerdings das Schicksal des Westens im 21. Jahrhundert abhängen."
    Chinas Aufstieg zur Weltmacht
    Die gute Nachricht ist also, dass der Westen sein Schicksal zu einem großen Teil selbst in der Hand hat. Die schlechte Nachricht ist, dass Europa nicht ausreichend gewappnet ist. Fischer sieht die größte unmittelbare sicherheitspolitische Gefahr für Europa im revanchistischen putinschen Russland. Doch die größte weltpolitische Unwägbarkeit erkennt er in der Rolle des aufsteigenden Chinas.
    Ob sich China mit den USA arrangieren wird, ob es von imperialen Gesten und Strategien eher absieht oder diese forciert - all dies kann nicht vorhergesagt werden. Klar ist für Fischer lediglich, dass das Land, das vor 50 Jahren ein bettelarmes Entwicklungsland war, heute einen der globalen ökonomischen Spitzenplätze einnimmt und eine immer größere Rolle spielen wird.
    Nicht nur China, auch Indien hole technologisch mit Riesenschritten auf, und die wirtschaftliche Dynamik Europas halte damit nicht Schritt. Das Europa von heute sei nicht mehr zeitgemäß, es hänge zwischen Bundesstaat und Konföderation fest. Die Antwort darauf kann für Fischer nur in einer beherzten europäischen politischen Integration bestehen. Und dabei müssten die Integrationswilligen ebenso beherzt vorangehen.
    "Folglich bleibt nur eine Avantgardelösung, eine EU der zwei Geschwindigkeiten auf intergouvernementaler Grundlage. Diejenigen Mitgliedsstaaten, die vorangehen wollen und können, sollten gemeinsam vorangehen, was der Lissabon-Vertrag [...] ausdrücklich zulässt."
    Kämpfer für die Demokratie
    Entscheidend in der EU sei dabei die Zusammenarbeit von Frankreich und Deutschland. Und was, so fragt Fischer, wäre aus Deutschland geworden ohne Frankreich, ohne die USA, ohne Großbritannien und ohne Europa? Allein die Vorstellung eines bindungslosen Deutschlands ohne feste Verankerung im Westen und in Europa lässt nicht nur Fischer schaudern. Deshalb sei die Infragestellung der westlichen Demokratie durch die rechtspopulistischen und rechtsradikalen Kräfte umso selbstzerstörerischer und gefährlicher. Die demokratische Mitte dürfe sich nicht anpassen an die Forderungen der neuen Rechten, sondern müsse ihr mit eigenen Narrativen entgegentreten.
    Dazu gehören für den Autor eine entschiedene Verteidigung der liberalen Demokratie und ein neuer Sozialpakt für Europa. Fischer geht es nicht um bloße Umverteilung, sondern um gesellschaftliche Teilhabe, die letztlich durch Bildungschancen gewährleistet werde. Erfreulich ist, dass der Autor seine Einsichten aus historischer Tiefe, den Erkenntnissen des Jahrhunderts vor 1945 zieht. Deshalb ist für ihn das Bündnis mit Frankreich so wichtig, deshalb plädiert er auch unter den derzeitigen schwierigen Bedingungen für eine weitere enge Zusammenarbeit mit den USA, soweit möglich.
    Dies ist ein sehr gut lesbares und sehr lesenswertes Buch. Auch wenn nicht jeder Fischer in allen Bewertungen folgen will, wird sich kaum jemand der Einsicht entziehen können, dass der ehemalige Außenminister die politischen Risiken unserer Zeit klar erkennt und benennt. Erfreulich ist auch die enge Verknüpfung außen- und innenpolitischer Faktoren.
    Der ehemalige Barrikadenkämpfer Fischer ist schon lange ein engagierter Kämpfer für repräsentative Demokratie, liberalen Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft. Fischers Generation hat nicht nur die Republik verändert, sie ist auch von der Republik verändert worden. Die kritische Reflexion und der skeptische Realismus, den Fischer auf den Westen anwendet, das ist ein wesentliches Merkmal der westlichen politischen Kultur selbst. Insofern ist Fischers Buch Mahnung und Ansporn zugleich.
    Joschka Fischer: "Der Abstieg des Westens. Europa in der neuen Weltordnung des 21. Jahrhunderts."
    Kiepenheuer&Witsch, 240 Seiten, 20 Euro.