Montag, 18. März 2024

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Soziologe Rosa zum Heimatbegriff
"Es ist definitiv ein Sehnsuchtsort"

Für viele Menschen verbinde sich die Vorstellung von Heimat mit Kindheitsideen, sagte der Soziologe Hartmut Rosa im DLF. Sie werde zu einem Ziel der Sehnsucht - und enthalte auch ein utopisches Moment. Für ihn persönlich sei Musik die Heimat, so Rosa.

Hartmut Rosa im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 17.08.2016
    Der Professor Hartmut Rosa vom Lehrstuhl für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, aufgenommen am Mittwoch (01.09.2010) bei einer Pressekonferenz in Jena
    Musik sei ein heimatstiftendes Moment für ihn, sagte der Soziologe Hartmut Rosa im Deutschlandfunk. (picture-alliance / dpa-ZB / Martin Schutt)
    Maja Ellmenreich: Der Soziologe Hartmut Rosa ist für unsere Reihe über "Heimat" eigentlich ein überraschender Gesprächspartner. Wir kennen ihn eher als Entschleunigungstheoretiker. Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Wenn man "Heimat" nicht unbedingt als etwas Territoriales begreift, dann ist Hartmut Rosa aber doch wieder ein guter Gesprächspartner, denn in seinen Untersuchungen geht es oft um unsere Beziehung zur Welt in einer Zeit, die immer schneller wird. Gerade hat Hartmut Rosa genau dazu ein Buch herausgebracht mit dem Titel: "Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung", erschienen im Suhrkamp Verlag.Ich habe Hartmut Rosa gefragt: In einem früheren Text haben Sie mal geschrieben, aufgrund unserer beschleunigten Lebensweise fühlten viele Menschen sich "in der Lufthansa Lounge oder im ICE zu Hause". Das war aber eine nicht wirklich so gemeinte Zuspitzung, oder haben Sie tatsächlich schon mal jemanden getroffen, der einen überfüllten, unterkühlten oder überhitzten ICE sein Zuhause nennt?
    Hartmut Rosa: Der muss ja nicht unbedingt überfüllt oder unterkühlt oder überhitzt sein.
    Ellmenreich: Ist er aber leider oft!
    Rosa: Ja, das ist richtig. Übrigens geht uns das mit dem, was wir sonst Heimat nennen, ja häufig auch so, dass wir zwar ein Idealbild haben einer Welt, die uns antwortet, in der wir uns wohlfühlen, die uns entgegenkommt. Aber wenn wir dann in unser Dorf zurückkehren, dann häufig eine ähnliche Beobachtung machen wie im ICE, dass die Welt nämlich doch nicht so freundlich ist, dass uns die Nachbarn finster statt freundlich anlächeln und dass der Baum, den wir liebten, gefällt ist.
    Ellmenreich: Dann ist es doch eher so ein Sehnsuchtsort, wie Daniel Schreiber das vorhin beschrieben hat?
    Rosa: Ja, es ist definitiv ein Sehnsuchtsort, das ist die Hoffnung auf einen Weltausschnitt, auf einen Teil der Welt. Das kann eben auch das römische Mosaik zum Beispiel sein oder eben die ICE-Lounge, die uns entgegenkommt, die uns antwortet, zu der wir eine Beziehung aufgebaut haben, die eben auch Erinnerungen und Hoffnungen umfasst. Und ich glaube, dass das sich häufig verbindet mit Kindheitsideen. Bei Ernst Bloch ist das sehr schön ausgedrückt: Es ist ein Land, in dem noch keiner war. Das ist dieses Sehnsuchtsziel, das wir nicht erreicht haben, das auch ein utopisches Moment enthält. Aber es scheint uns aus der Kindheit her zu leuchten oder zu scheinen, denn weil wir als Kinder auf eine andere Form in die Welt gestellt sind, nämlich auf eine resonante Weise, wie ich sagen möchte, weil uns da die Welt zu leben scheint geradezu, zu atmen und zu antworten. Und ich glaube, das meinen wir, wenn wir von Heimat träumen oder reden. Ein Ausschnitt in der Welt, das kann der sein, den wir von der Kindheit her kennen, das kann aber auch ein neu erworbener sein, der uns nicht kalt entgegentritt und zu dem wir auch nicht nur eine instrumentelle Beziehung haben, sondern eine lebendige, tragfähige.
    Ellmenreich: Das würde aber bedeuten, dass Heimat zwar irgendwie eine Vorstellung von etwas Stabilem ist, etwas, zu dem wir eine warme Beziehung haben, so wie Sie es vorhin formuliert haben, aber auf der anderen Seite ist unsere Welt ja eine immer dynamischere. Wie geht das denn zusammen?
    Rosa: Da glaube ich, dass es tatsächlich ein gewisses Problem gibt. Also so bin ich auch auf diesen Themenkomplex gekommen, zu sagen, die permanente Beschleunigungszwänge machen es uns schwer, uns Weltausschnitte in dieser Weise anzuverwandeln, weil ich glaube, man kann sich auf Welt nur in eine resonante Weise einlassen, sodass sie zur Heimat werden kann. Wenn ich …
    Resonanzbeziehungen zu einem Raum
    Ellmenreich: Sagen Sie noch mal genau, was Sie mit resonant meinen. Sie haben das jetzt gerade so selbstverständlich verwendet.
    Rosa: Also eine Resonanzbeziehung zu einem Raum zum Beispiel ist eine, in der ich das Gefühl habe, dass ich mich öffnen kann ihr gegenüber und dass die mir was zu sagen hat, also ein Weltausschnitt, der mich anspricht. So reden wir ja auch: 'Das spricht mich an oder das sagt mir was.' Und ich kann es aber auch selber gestalten. Also meine Eigentätigkeit hat da auch eine Wirkung, hinterlässt vielleicht eine Spur, sodass sich das dann mit Erinnerungen verbindet. Solche Resonanzen gehen wir nur ein, wenn wir uns vertrauensvoll öffnen können, weil resonant zu sein bedeutet verletzbar zu sein, offen zu sein, sich ansprechen zu lassen. Und das sind wir nur dort, wo wir eine gewisse Stabilität und Sicherheit tatsächlich haben, und der Dauerzwang, uns immer wieder neu zu orientieren, Räume, Orte, Partner immer wieder zu verändern, der verändert unsere Haltung, eben unsere Weltbeziehung zu einer tendenziell eher instrumentellen Beziehung. Dann gehen wir mit den Dingen um, aber wir versuchen uns eigentlich zu schließen oder zu verschließen und Verletzbarkeit klein zu machen. Also Dynamik und Veränderung steht in einem gewissen Spannungsverhältnis mit dem Heimatbegriff, Wobei ich aber finde, man sollte es nicht übertreiben. Also für viele Menschen ist der herkömmliche Ort gerade kein resonanter Raum und in dem Sinne eben nicht die Heimat, sondern ein stumpfer Raum, ein nervtötender Raum, etwas, wo sie das Gefühl haben, sie sind da gefangen, und deshalb träumen sie von einem anderen Weltausschnitt, vielleicht einen Sehnsuchtsort, wo sie mal hinziehen wollen, den sie dann resonant machen. Deshalb glaube ich, Heimat muss nicht das traditionelle Angestammte sein, sondern es ist ein Weltausschnitt, den wir uns anverwandeln können.
    Ellmenreich: Das bedeutet aber, Herr Rosa, in einer Welt, in der Bewegung und Schnelligkeit alles sind, ist jemand, der an so etwas wie einem stabilen Heimatbegriff festhält, sogar im Nachteil, oder?
    Rosa: Das sture Festhalten am Alten kann unser Weltverhältnis nicht richten, aber die permanente Suche nach Neuem auch nicht, sodass man einerseits sagen kann, die Lösung liegt in der richtigen Balance. Das kann man irgendwie immer sagen, ist auch immer richtig. Aber ich glaube eben, dass es auch ein Problem für die Gesellschaft insgesamt ist. Wir müssen auch mal überlegen, wie wir unsere Weltbeziehung, unsere Art des In-der-Welt-Seins kollektiv und politisch gestalten wollen, weil wir individuell das Problem nicht lösen können. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen hat Adorno gesagt, und damit hat er durchaus auch solche Phänomene im Sinn. Also das Festhalten am Alten ist nicht die allein richtige Lösung, aber die permanente Such nach Neuem auch nicht.
    Resonanzachsen aufrechterhalten
    Ellmenreich: Na ja, andererseits bleibt uns im Moment nicht viel anderes übrig, als hier und da immer, sagen wir, vorübergehender Heimaten, wie vielleicht ein Chor oder eine Familie, die hoffentlich nicht ganz so vorübergehend ist, zu suchen als etwas, was einem einen Anker bietet.Aber das ist auch ganz schön anstrengend, oder?
    Rosa: Da sehen wir aber, dass wir durchaus auch Handlungsmöglichkeiten haben, weil ich glaube, es gibt zwei Orientierungen, die wir derzeit verfolgen, vielleicht gibt es auch zwei Sehnsüchte. Das eine ist die Steigerungsorientierung, also noch ein bisschen mehr erreichen, ein bisschen mehr kriegen, auch ein bisschen mehr machen aus der Welt, und das andere ist, Resonanzachsen aufrecht zu erhalten. Ihre beiden Beispiele kann man dafür gut benutzen. Also ich habe vielleicht einen Chor, in dem ich singe, und der Punkt ist jetzt, dass wir feststellen, das engt uns ein, das beschränkt unsere Weltreichweite, weil ich muss dann immer am Freitag da sein, und dann ist das Konzert genau da, wo ich in Urlaub wollte, und es nervt irgendwie. Und dann komme ich auf die Idee, ach, ich lass das mit dem Chor. Da kann ich ganz individuell ganz viele andere Dinge machen. Ich kann dann sozusagen meine Weltreichweite vergrößern, aber ich verliere eben eine Resonanzachse. Ich glaube, dass wir es tatsächlich manchmal auch mit guten Gründen übertreiben. Also wir versuchen, Dinge zu optimieren, zu steigern, mehr Verfügbarkeit zu gewinnen und sagen dann: 'Dafür opfere ich jetzt den Chor'. Und ich glaube, da können wir wirklich auch in unserem Leben mal den Sinn dafür gewinnen, dass das Aufrechterhalten von Resonanzachsen, man könnte auch sagen von Heimaträumen, einen Eigenwert hat, für den es sich lohnt, Weltreichweite auch mal zu verkürzen oder eben auf Steigerung zu verzichten.
    Ellmenreich: Und, Herr Rosa, wer es nicht schafft, solche Heimaträume oder Resonanzachsen zu finden, der wir dann anfällig für Populismus oder für Radikalismus?
    Rosa: Tatsächlich glaube ich, dass da zwei Gefahren drohen, in der Tat. Also, das eine ist, was man mit Populismus beschreiben kann oder auch was zu sowas wie Wutbürgertum führt, ist, glaube ich, der Schrei des oder der Entfremdeten, die das Gefühl haben, die Welt antwortet mir gar nicht mehr. Also viel von gerade diesem Rechtspopulismus basiert ja auf dem Gefühl, das ist nicht mehr meine Welt. Ich komme da in eine Stadt und ich hab das Gefühl, das ist nicht mehr meine Welt und ich glaube, es ist ein Irrtum dann zu denken, daran sind die paar Andersfarbigen Schuld oder die Menschen, die anders sind. Sondern es ist fehlende Anverwandlung, die uns nicht mehr gelingt. Deshalb glaube ich tatsächlich, da, wo Entfremdung überhandnimmt, sind wir anfällig für Populismus auf der einen Seite. Die andere ist dann sowas wie Burn-out, das natürlich auch nicht viel attraktiver ist. Burn-out ist, glaube ich, ein Zustand, oder Depression, in dem alle Resonanzachsen verstummt sind. Wo man das Gefühl hat, es gibt gar nichts mehr, was mich berührt oder ergreift oder erreicht. Meine Verbindung zur Welt ist insgesamt verloren gegangen. Also ich denke, da gibt es manifeste Gefahren in einem Verlust von Heimat in diesem Sinne oder in einem Verlust von Resonanzbeziehungen.
    Ellmenreich: Sie haben jetzt vorhin gesagt, dazu bräuchte es eine gesellschaftliche Lösung, weil wir eigentlich nicht immer individuelle Lösungen für dieses Problem des Verlusts von Heimaträumen finden können. Was könnte denn so eine gesellschaftliche Lösung sein?
    Rosa: Dazu braucht man ein bisschen Soziologie oder soziologische Analyse Wir leben in einer Gesellschaft, die sozusagen systematisch oder strukturell auf Wachstum, Beschleunigung und Steigerung hinaus gerichtet ist. Das heißt, ohne Wachstum zum Beispiel, ohne Wirtschaftswachstum können wir nicht so bleiben, wie wir sind. Also wenn wir nicht jedes Jahr einen Zahn zulegen, ein bisschen schneller, ein bisschen innovativer, dynamischer werden und wachsen, dann verlieren wir Jobs, dann schließen die Firmen, dann sinkt das Staatseinkommen und so weiter. Das heißt, gegenwärtig sind unsere Gesellschaften so verfasst, dass Wachstum, Steigerung, Beschleunigung notwendig sind zur Aufrechterhaltung der institutionellen Ordnung. Also müssen wir darüber nachdenken, wie kann denn eine institutionelle Ordnung aussehen, die zwar demokratisch und pluralistisch ist und auch in der Lage zu beschleunigen und zu wachsen, wenn sie das will oder wenn das notwendig und sinnvoll ist, dieses aber nicht muss, nur um sich zu erhalten. Das heißt, wir brauchen Konzeptionen einer Postwachstumsgesellschaft, eines Wirtschaftssystems zum Beispiel, das ohne Zwang zum Wachstum auskommt. Das ist nicht so leicht zu sagen, wie das aussieht. Das wird vermutlich Markt- und Konkurrenzmomente enthalten, aber auch ein bisschen einebnen. Ein Grundeinkommen könnte ein Moment sein, das uns diese Sicherheit der Weltbeziehung gibt. Basale, permanente Angst, die uns dann zwingt, zu reproduzieren. Also da brauchen wir neue institutionelle Lösungen sozialstaatlicher Art, ökonomischer Art, vermutlich auch politischer Art, dass wir uns die Welt, in der wir leben, demokratisch wieder aneignen können. Da, glaube ich, brauchen wir politische, sozialstaatliche, ökonomische Reformen. Wir arbeiten daran in Jena im Moment, aber das ist nix, was man an der Uni alleine beschließen könnte, und ich glaube, da brauchen wir einen langen gesellschaftlichen Prozess, zu dem wir jetzt erst aufgebrochen sind.
    Musik als Nabelschnur zur Welt
    Ellmenreich: Herr Rosa, was sich aber vielleicht schneller beantworten lässt: Was ist denn für Sie persönlich Heimat oder ein Heimatraum?
    Rosa: Also tatsächlich ist für mich ein ganz starkes Moment oder ein heimatstiftendes Moment Musik in fast allen Formen, jedenfalls in vielen Formen. Ich mach gerne Musik, wir haben eine Band hier an der Uni Jena, ich spiele auch gerne Orgel, sehr gerne eigentlich. Also Musik machen und hören stiftet für mich fast, ich beschreibe das fast wie eine Nabelschnur zur Welt. Aber zum Beispiel tatsächlich bin ich auch großer Astronomiefan. Ich baue gerade eine Sternwarte zusammen mit meinem Patenkind und dessen Vater. Also in die Sterne gucken ist erstaunlich, weil eigentlich ist das ja die Begegnung mit ganz, ganz fernen Räumen, aber das gibt mir wirklich so eine Art von Sinn, von Verbundenheit, man könnte fast sagen, von universaler Verbundenheit, was wie eine Resonanzachse wirken kann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.