Günter de Bruyn: "Der neunzigste Geburtstag"

Brüchige familiäre Beziehungen

Das Buchcover zeigt eine Landschaft, auf der Frost zu sehen ist
Günter de Buyn selbst feierte kürzlich seinen 90. Geburtstag – wie die Protagonistin seine neuen Romans © S. Fischer Verlag/Imago
Von Michael Opitz · 31.10.2018
Günter de Bruyn erzählt in seinem Roman von Geschwistern, die über Flüchtlingshilfe diskutieren und an ihre Geschichte erinnert werden. Ein Familienporträt zwischen Ost und West – und ein kritischer Blick auf den Zerfall des Gemeinsinns.
In Günter de Bruyns Lebensbericht "Vierzig Jahre" (1996) findet sich der Satz: "Immer waren es Menschen, die mich erschreckten." Man könnte bei der Lektüre seines neuen Buches "Der neunzigste Geburtstag" durchaus auf die Idee kommen, dass Leonhard Leydenfrost, eine der zentralen Figuren des Romans, diese Aussage anstandslos unterschreiben würde. Der pensionierte Bibliothekar – wenn man so will, ein Kollege des gelernten Buchhändlers de Bruyn – lässt sich lieber mit Büchern, als mit Menschen ein. Zurückgezogen lebt er mit seiner Schwester Hedwig im brandenburgischen Dorf Wittenhagen. Das ist insofern von Vorteil, weil sich der Kontakt zu den Mitmenschen auf ein erträgliches Maß – und zwar selbstbestimmt – dosieren lässt. Wenn Leo wissen will, worüber im Dorf geredet wird, begibt er sich in Cornelias Friseursalon, wo er beim Haareschneiden mit dem Allerneuesten versorgt wird.
Zwei Ereignisse versetzen Leo in eine gewisse Unruhe. Zum einen steht der 90. Geburtstag seiner Schwester unmittelbar bevor, ein Ereignis, das seine Aufmerksamkeit unbedingt verlangt. Aber da in diesem Roman Privates stets verknüpft ist mit Öffentlichem, resultiert daraus ein Problem: Wunsch der Jubilarin nämlich ist es, dass man statt Geschenken eine Geldsumme auf das Konto eines noch zu gründenden Fördervereins einzahlen möge, mit dem man die Flüchtlingskinder unterstützen will, für die im Dorf eine Unterkunft entstehen soll. Die großzügige Geste der Bundeskanzlerin, die 2015 die Grenze für die Geflüchteten öffnete und ihr in diesem Zusammenhang geäußerter Satz, "Wir schaffen das!", hinterfragt de Bruyn in seinem neuen Buch kritisch.

Wie sich Gemeinschaft auflöst

Zunächst, indem er den Blick auf ein ungleiches Geschwisterpaar fokussiert: Der politisch umtriebigen Hedwig aus dem Westen – sie war in den Anfangsjahren der Grünen eine der Aktivistinnen der Partei – stellt er mit Leo einen unpolitischen Bruder gegenüber, der im Osten blieb, und dem in der DDR alles Parteipolitische verhasst war. Doch de Bruyn beschränkt sich nicht auf diese beiden Personen, sondern er erweitert das Figurenensemble erheblich, sodass die zur Sprache kommenden unterschiedlichen Ansichten einen Eindruck von der gegenwärtigen politischen Lage im Dorf und darüber hinaus im Land vermitteln.
Sehr genau zeigt de Bruyn in seinem neuen Roman, wie sich Familienverhältnisse und Gemeinschaftsstrukturen in einem Auflösungsprozess befinden. Hedi und Leo, die beiden Geschwister, wurden durch die deutsche Teilung voneinander getrennt. Sie finden nach der "Wende" wieder zueinander. Hedi, die kinderlos bleibt, adoptiert Fatima. Zu ihr wiederum fühlt sich Leo stärker hingezogen als zu seinen eigenen Kindern. Die zerrüttete Familie findet, trotzdem es ernsthafte Bemühungen gibt, nicht wieder zusammen: Gänzlich aus Leos Gesichtskreis verschwunden ist sein Sohn.
Wenn auch zwischen dem Erscheinen beider Bücher mehr als dreißig Jahre vergangen sind: "Der neunzigste Geburtstag" lässt sich als Fortsetzung von de Bruyns 1984 erschienenem Roman "Neue Herrlichkeit" lesen. In beiden Romanen werden brüchig gewordene familiäre Beziehungen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verhältnisse beschrieben. Mit "Der neunzigste Geburtstag" ist dem inzwischen 92-jährigen Autor erneut ein Familienporträt gelungen. Kritisch, aber durchaus mit Ironie, denkt dieser große Stilist über den Zustand unserer gesellschaftlichen Verfasstheit nach.

Günter de Bruyn: "Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018
269 Seiten, 22 Euro

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