Gruppenzwang und Gruppendynamik

Das Wirus: Wenn aus der Masse eine Meute wird

55:57 Minuten
Illustration einer Gruppe Protestierender mit riesigem Megafon.
Teil einer sozialen Gruppe zu sein, kann viel Positives bewirken. Aber was ist, wenn der Konformitätsdruck zur Belastung oder sogar zur Gefahr für einen wird? © imago / fStop Images / Malte Müller
Von Florian Felix Weyh · 24.05.2021
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Gemeinschaft, Gemeinsinn, Geselligkeit - das sind unzweifelhaft die positiven Aspekte des Zusammenseins von mehreren Menschen. Auf der Suche nach dem Wir findet unser Autor aber vor allem Dinge, vor denen er warnen möchte.
Das Wir ist so etwas wie ein schöner, nicht allzu heißer Sommertag. Das Wir ist kümmernd, sorgend, bergend, friedlich, erfüllend, glücksbringend. Das Wir ist flauschig, warm, gewaltfrei, süß …
Aber es hat es nicht nur Freunde.
Da wäre Wolf Lotter, Publizist und Mitbegründer des Wirtschaftsmagazins "Brand eins":
"Der Denunziationsmodus ist immer gegen die Individualität gerichtet gewesen in diesem Land. Immer! Das haben die Nazis gemacht, das haben die Kommunisten gemacht, das haben die Sozialdemokraten gemacht, die Christdemokraten! Man darf sie da wirklich in einem Namenszug alle nennen, weil sie natürlich alles kollektivistische Organisationen sind. Und vergessen Sie nicht: Unsere Parteien, und damit auch unsere politische Kultur, stammt aus dem Zeitalter der Massenbewegungen. Eine Politik, die ein Wir möchte, das auf Einheit und Eindeutigkeit hinausläuft, auf diese fatale Eindeutigkeit, die heute immer gefordert wird, ist per se nicht demokratisch."

Die Wir-Position ist aufgeblähter Individualismus

Thomas Manns Tochter Monika wusste aus den Erfahrungen ihrer Familie genau, wie gefährlich ein Wir werden kann. Sie brachte es für sich auf den Punkt: "Nehm ich teil an einer Massenbewegung, hab ich das Gefühl, hier ist ein Zuviel, und das bin ich." Kafka ging es ähnlich, wie seine Tagebücher verraten: "‘Willst Du Dich nicht in unsere Gesellschaft aufnehmen lassen‘, fragte mich letzthin ein Bekannter, als er mich nach Mitternacht allein in einem schon fast leeren Kaffeehaus traf. ‘Nein, das will ich nicht‘, sagte ich."
Man kann und darf das Ich kritisch sehen, meint Marko Martin, Autor des Buches "Dissidentisches Denken". Aber: "Wenn Leute den Hyperindividualismus ablehnen, dann sollte sie bei ihrer Ablehnung und bei ihrer Kritik zuvörderst bei denen schauen, die im Namen des Wir sprechen. Denn das ist die größte Anmaßung, die man sich überhaupt vorstellen kann.
Ein Ich, was nur für sich spricht, dem kann man dann Egoismus vorwerfen und Selbstsucht oder was auch immer. Aber ein Ich, was sich anheischig macht, im Namen einer Gruppe – je größer, umso eindrucksvoller – zu sprechen und zu schwadronieren, das ist der Gipfel eines übersteigerten Individualismus."

Im Team tun alle nur so, als würden sie miteinander arbeiten

Von Arbeitgebern gepriesen, an Schulen und Universitäten praktiziert: die Teamarbeit. Böse Zungen haben daraus ein Akronym gemacht: Team = Toll, ein anderer macht’s!
"Das kennen wir doch irgendwie alle!", meint Anna Schneider, bis vor Kurzem Redakteurin bei der NZZ, bald Chefreporterin der WELT. "Zumindest ich kann mich noch sehr an Gruppenarbeiten im Studium erinnern, die immer schrecklich sind. Und ich weiß nicht, warum das Lehrveranstaltungsleiter nach wie vor machen. Man weiß, dass man viel Arbeit haben wird mit Menschen, die das nicht wollen! Und das ist genau so eine Art von Zwangsgemeinschaft, die ich gar nicht einsehe."
Marko Martin erinnert sich dabei an DDR-Teams, genannt Kollektive, und kennt den obligatorischen Witz: "Sozialistisches Arbeitskollektiv, was bedeutet das? Einer steht am Betonmischer, sieben schauen zu."
Da hält man es besser mit Alexander Rüstow, einem der geistigen Väter der sozialen Marktwirtschaft. Sein Motto lautete: "Brauchst Du eine hilfreiche Hand, so such sie zunächst am Ende Deines rechten Armes."
"Ein sehr kluger Satz", findet Wolf Lotter, "eine gute Lebensregel, die sich bis in die Ganglien des Gehirns fortsetzen ließe. Denn das ist das Entscheidende heute, dass wir anfangen, selber zu denken, selber zu handeln, selbst zu entscheiden und die Konsequenzen dafür auch zu tragen. Damit ließen sich die großen Probleme, die diese Gesellschaft hat, schon mal ganz gut verkleinern, wenn nicht sogar lösen. Und Entwicklung würde endlich stattfinden, statt dieses Stagnieren und Schwimmen im eigenen Saft des Wirs."

Das beste aller Wir-Formationen: Familie. Oder etwa nicht?

Nichts Gutes zu sagen also über menschliche Gemeinschaften? "Die Familie zum Beispiel ist ein schönes Wir", meint Anna Schneider. Die aber hat ihre Tücken. Charles Lamb, englischer Dichter und Essayist im sippenbewussten 18. Jahrhundert, verfasste folgende Litanei: "Ein armer Verwandter ist das nutzloseste Etwas auf Erden – ein Stück lästigen Zubehörs – eine Gewissensplage – ein ständig wiederkehrender Verdruss – ein Loch in unserem Geldbeutel. Ein Schandmal auf dem Familienwappen – ein dunkler Fleck auf unserer Weste – ein Haar in unserer Suppe – ein Entschuldigungsgrund unseren Freunden gegenüber – das Quäntchen Bitterkeit im Kelch der Süße." Und noch vieles mehr …
"Die erste große Nähe, wie wir sie in unserem kulturellen Gedächtnis kennen, ist der Brudermord, Kain und Abel", konstatiert Marko Martin. "Wir sind aufgewachsen – oder wir könnten aufgewachsen sein – mit der Einsicht, dass zu viel Nähe, auch die angeblich natürliche Nähe, Stichwort ‚Brüderlichkeit‘, auch nicht feit vor Mord und Totschlag. Unser kulturelles Gedächtnis ist voll dieser Lektionen, dass wir Ambivalenzbewusstsein lernen könnten."

Ach, klingt das schön: "Vom Ich zum Wir"!

Dennoch erfreut sich der Slogan "Vom Ich zum Wir" größter Beliebtheit. Über 60 Mal findet man ihn in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig als Buchtitel vor – mit durchaus anrüchiger Vergangenheit. "Das ist ein alter DDR-Slogan", erinnert sich Marko Martin, "ich glaube in den 50er- oder 60er-Jahren ausgegeben." Doch es beginnt noch früher, 1935 mit Gedichten in der "Landsknecht-Presse", die natürlich auf das nationalsozialistische Kollektiv zielt: "Vom Ich zum Wir" – man ahnt, was da gemeint ist: Gleichschritt, Marsch!
Dieses gefährliche Wir sollte jedem vor Augen stehen, wenn er die Wärme der Gemeinschaftskuscheligkeit heraufbeschwört. Es gilt: Nur ein Ich kann richtig und moralisch handeln, ein Wir nie.
"Ein Wir ist auch nicht in der Lage, eine Ethik zu entwickeln", stimmt Wolf Lotter zu, "weil es ausnahmslos immer bedeutet, dass dieses Wir, diese Wir-Ethik, dieses ‚Wir meinen es richtig! Wir wissen, was richtig ist!‘ immer totalitär ist und vereinnahmend."
Solch ein Wir macht auch Verbrechen nicht halt. Das Individuum mag in der Gruppe geborgen sein, doch wenn es mordet, mordet es als Einzelner.

Das erschreckende Beispiel des "Reserve-Polizeibataillons 101"

Ein berühmtes Beispiel der Holocaustforschung belegt die Schwierigkeiten einer moralischen Entscheidung gegen die Gruppe. In seiner Studie "Ganz normale Männer" dokumentiert der amerikanische Historiker Christopher R. Browning, wie ein Kollektiv aus ideologisch zuvor nicht sonderlich auffälligen Hilfspolizisten einen Juden-Ermordungsbefehl erhielt, zugleich aber – das ist einzigartig – die Möglichkeit für jeden Einzelnen bestand, sich diesem Befehl ohne Probleme zu entziehen: Die Teilnahme am Massaker wurde ihnen freigestellt.
Nur wenige Männer wählten diese Option. Auch auf dem Weg zum Tatort kehrte keiner um. Erst nachdem das Morden in Gang gekommen war, erklärten weitere Männer ihren Rückzug. 80 Prozent machten aber auch dann noch mit, als allen klar war, was dies bedeutete.
"Eindeutig ist, dass den Polizisten die Sorge um das eigene Ansehen bei den Kameraden wichtiger war als irgendein Gefühl menschlicher Verbundenheit mit den Opfern", schreibt Browning. "Die Juden standen für sie außerhalb des Kreises, in dem man menschliche Verpflichtung und Verantwortung empfand. Eine derartige Polarisierung in ‚wir‘ und ‚die‘, in Kameraden und Feinde, ist im Krieg natürlich die Norm."
"Wir und die": eine der größten Herausforderungen fürs moralische Selbst. Das Problem: Wo man einem Wir beitritt (oder in es hineingezerrt wird), ist das Gegenüber automatisch definiert. Selbst in Extremfällen von Wir-Verkommenheit lässt sich dieser mörderischen Dualität kaum entrinnen. Holocaustforscher Browning formuliert Erklärungshypothesen:
"Die meisten schafften es einfach nicht, aus dem Glied zu treten und offen nonkonformes Verhalten zu zeigen. Zu schießen fiel ihnen leichter. Warum? Zunächst einmal hätten alle, die nicht mitgemacht hätten, die ‚Drecksarbeit‘ einfach den Kameraden überlassen. (…) Gegenüber den Kameraden war das ein unsozialer Akt. (…) Die Gefahr der persönlichen Isolierung wurde noch durch den Umstand verstärkt, daß das eigene ‚Nein‘ von den Kameraden auch als moralischer Vorwurf aufgefasst werden konnte – als halte sich der Verweigerer für ‚zu gut‘, um so etwas zu tun."

Wovor man sich hüten sollte: Groupthink

Ein Extremfall, sicherlich. Doch 1972 beschrieb der amerikanische Psychologe Irving Lester Janis im sozialpsychologischen Klassiker "Victims of Groupthink" (der seltsamerweise nie auf Deutsch erschien) weitreichende politische Entscheidungen und gelangte zu dem Schluss, dass kein Einzelner in Fällen wie der gescheiterten amerikanischen Invasion auf Kuba oder der Flächenbombardierung in Vietnam so gehandelt hätte.
Gruppenphänomene begünstigen die Entscheidungen: "In gewisser Weise betrachten die Mitglieder Loyalität gegenüber der Gruppe als die höchste Form von Moral. Diese Loyalität erfordert, dass jedes Mitglied es vermeidet, kontroverse Themen anzusprechen, schwache Argumente infrage zu stellen oder schwachsinnigen Denkweisen Einhalt zu gebieten."
Unter acht äußerst bedenklichen Symptomen des Gruppendenkens fallen Engstirnigkeit, gesteigerte Selbstüberschätzung und ein Glaube an die Unverletzlichkeit des Kollektivs auf. Zentral ist das Bemühen um Uniformität: "Das Streben nach Übereinstimmung (…) kann am besten als gegenseitiges Bemühen von Gruppenmitgliedern verstanden werden, ihr Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten, besonders wenn sie (…) der Gefahr sozialer Missbilligung oder der Selbstmissbilligung unterliegen.‘"
"Wunderschön ist es, Konsens zu erleben, verdächtig, wenn er anhält." (Wirtschaftsphilosoph Birger Priddat in einem Studienratgeber)
Anna Schneider pflichtet bei: "Ich glaube, es gibt zu ganz wenigen Sachverhalten nur eine Meinung, nur ein ‚Richtig‘. Wirklich, zu ganz, ganz wenigen! Und in jedem anderen Fall irritiert’s mich sehr, wenn Menschen das Gleiche denken, wenn niemand mehr hinterfragt."

Wenn Journalisten ihr Heil in der Herde suchen

In ihrem Beruf, dem Journalismus, kann dies durchaus zum Problem werden, wie die Professorin für Wissenschaftskommunikation Senja Post erklärt: "Journalisten arbeiten ja in ‚unbestimmten Situationen‘ und berichten in der Regel über Krisen, über neueste Ereignisse, die noch ganz schwer zu deuten sind. Hinzu kommt noch als Druckelement im Journalismus, dass die Arbeit von Journalisten von außen ständig kritisch beäugt wird. Und jetzt ist es eine menschliche, psychologisch sehr gut erklärbare Tendenz, dass man versucht, diese Ungewissheit zu kompensieren, indem man sich aneinander stark orientiert."
Der ZEIT-Redakteur Ijoma Mangold spießt eine solche Erfahrung in seinen Reflexionen "Der innere Stammtisch" auf: "Als ich ein junger Redakteur war, sagte mir ein von mir verehrter älterer Kollege, er sei meistens der Meinung, die er zuletzt gehört habe. Beeindruckt, dass man das einfach zugeben konnte, wollte ich es ihm nachtun und stellte fest: Ja, man fühlt sich dann gleich viel freier."
Im Jahr 2017 erforschte Senja Post journalistisches Gruppenverhalten. Grundsätzlich kein Phänomen, über das man sich wundern muss, denn jeder kennt den Mechanismus aus seiner eigenen Schulzeit: "Mein Beispiel sind Klassenarbeiten in Deutsch oder auch in Englisch, da schwamm man immer völlig. Das waren offene Fragen, egal wie gut man sich vorbereitet hat. Und nach diesen Deutsch- und Englischarbeiten war dieser Diskussionsbedarf bei uns in den Pausen immer besonders hoch. Man wollte immer wissen: ‚Was hast du geschrieben?‘ Und: ‚Wie hast du argumentiert?‘"
Wie im Deutschaufsatz verhandeln Journalisten selten reine Wissensfragen, sondern bewerten offene, uneindeutige Situationen. Sozial lässt sich aber Eindeutigkeit herstellen, indem man schaut, was die anderen für real halten. Schon ist ein Gruppen-Wir etabliert, ohne dass irgendein Ich dies willentlich angestrebt hätte. Dagegen ist niemand gefeit.

Muzafer Sherifs Experiment der Gruppenwahrnehmung

Ein berühmtes Experiment des amerikanischen Sozialpsychologen Muzafer Sherif hat vielen nachfolgenden Überprüfungen und Varianten standgehalten. Probanden beschreiben dabei, wie ein in vollkommener Dunkelheit an die Wand projizierter Lichtfleck aussieht: Bildet er einen Punkt, eine Linie, einen Kreis? Ist er still oder flackert er unruhig? Physikalisch gesehen, bewegt er sich nicht, doch physiologisch kommt es zu einer optischen Täuschung. Bei Einzelbefragung der Probanden erhält man eine weite Streuung individueller Beobachtungen. So weit, so gut.
"Dann hat man Leute in Kleingruppen zusammengesetzt, mit der Bitte, als Gruppe zu beschreiben, was sie dort sehen", berichtet Senja Post. "Es war dann so, der eine sagte: ‚Ja, also man sieht doch hier eine Kreisbewegung!‘ Und dann sagte der andere: ‚Ja, ja, stimmt, seh ich auch!‘ Da glichen sich also die Urteile aneinander an, und der Witz war: Wenn man die Leute später noch mal einzeln befragte, dann gaben sie genau dieses Gruppenurteil zu Protokoll! Da gab’s dann überhaupt keine Unterschiede mehr in diesen Wahrnehmungen."
So etwas passiert nicht nur in Laborsituationen, sondern ganz real, wenn unerwartete Ereignisse wie die Flüchtlingskrise 2015 oder der Beginn einer Pandemie nach Bewertung und Einordnung von Journalisten verlangen. Die Realitätswahrnehmung – was ist eigentlich los? – wird in der Gruppe austachiert. Im Kleinen in Redaktionskonferenzen, im Großen durch Beobachtung der publizistischen Szene.
Doch das ist nicht alles. Senja Post in ihrer Studie: "Hinzu kommt, dass Journalisten an die Gültigkeit ihrer Erkenntnisse höchste Ansprüche stellen – weitaus höhere als Wissenschaftler, wie eine Befragung von Angehörigen beider Berufe zeigt. (…) Die Mehrheit der Journalisten (55 %) tendierte auf der Skala mehr oder weniger stark zu der Einschätzung: ‚Es ist wichtiger, dass alle Zweifel restlos ausgeräumt sind, bevor eine Erkenntnis veröffentlicht wird.‘"
Dieser Unfehlbarkeitsehrgeiz hat Folgen. Entweder man veröffentlicht öfter auch mal nichts, was der eigenen Praxis widerspräche. Oder man räumt Zweifel aus, indem man sich mit anderen stillschweigend einigt, sie fallenzulassen. So wird die Situation von Widerspruch und Unsicherheiten bereinigt.

Im Shitstorm wird die Menge zur Meute

"Das, was früher vielleicht am Stammtisch geredet wurde, das wird sichtbar für Journalisten. Und das ist eine riesige Herausforderung! Das ist noch etwas, was diese ‚unbestimmte Situation‘ noch mal drastisch zuspitzt! Es kommt nicht mehr nur dieses Gefühl ‚Laien können sehen, was ich mache‘, sondern die können mich auch potenziell wirklich richtig treffen!", sagt Senja Post.
Indem sie einen Shitstorm beginnen und dabei als Meute ganz im Sinne von Elias Canetti in "Masse und Macht" auftreten: "Die Meute besteht aus einer Gruppe erregter Menschen, die sich nichts heftiger wünschen, als mehr zu sein. Was immer sie gemeinsam unternehmen, ob sie auf Jagd oder Krieg ausgehen, es wäre für sie besser, sie wären mehr."
Natürlich kennt Anna Schneider solche Situationen, in denen ein lautstarkes Wir über sie als Einzelne herfällt: "Wenn man zum Beispiel kritisiert, was im Zuge der aktuellen Rassismusdebatte so passiert, nämlich dass ernsthaft Bücher Bestseller werden, in denen drinnen steht, dass weiße Menschen ihre Schuld quasi niemals abdienen können, sie werden immer Rassisten sein und sie müssen endlich erkennen, dass sie’s sind. Wenn man sich dagegen ausspricht und sagt: ‚Finde ich nicht in Ordnung, dass jemand alle Weißen per Hautfarbe als Rassisten behandelt, weil das ist eigentlich Rassismus‘, dann wird man sofort niedergebügelt, weil man sich ja damit gegen die Antirassisten stellt."

Wird Journalismus sensibler oder einfach nur eingeschüchtert?

Das macht etwas mit Journalistinnen und Journalisten.
"Wir haben auch gefragt, ob sie bei der Arbeit manchmal Shitstorms antizipieren, und wie sie dann damit umgehen? Die, die negative Emotionen gehabt hatten in der Vergangenheit, wenn sie Shitstorms antizipieren, dann stimmen sie bei solchen Aussagen zu wie ‚Ich bemühe mich, heikle Sachverhalte vorsichtiger zu formulieren`", sagt Senja Post.
Das kann gut sein, sensibel. Es kann aber auch verheerend wirken, im Sinne einer inneren Vorzensur. Und warum sollte man pöbelnden Minderheiten entgegenkommen?
"Das nächste Mal, wenn eine Gruppe, die dem Kollektivismus huldigt, den Minderheitenschutz für sich entdeckt, was sie ja alle fünf Minuten tun", meint Wolf Lotter, "dann sollten sie anfangen, den Einzelnen und die Einzelne in ihrer Verfasstheit, in ihrer Eigenständigkeit, in ihrer wunderbaren Unterscheidbarkeit zu anderen zu würdigen und zu schätzen!"
Allerdings ist für Lotter nicht das Wir an sich von Übel. Es kommt darauf an, wie es sich organisiert. Etwa als Netzwerk: "Ein Netzwerk ist eine Sozietät von Individuen, die miteinander für bestimmte Zeit in Verbindung treten. Das ist keine Organisation, das ist nicht auf Dauerhaftigkeit angelegt. Es ist die freie Willensentscheidung Selbstständiger, für eine bestimmte Zeit, für ein bestimmtes Projekt etwas zu unternehmen mit anderen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen."
Auch Marko Martin kennt eine verträgliche Form von Gemeinschaft: "Gelingende Wirs sind die, die sich temporär konstituieren, ohne dass die Absicht bestanden hat, sie zu einem Wir zu formen. Also Menschen, die eine Nähe zueinander fühlen für die Dauer einer Abendunterhaltung. Deshalb ist es ja dann auch immer so schön, die französischen Filme zu sehen, wo man dann ein Wir sehen kann, das gemeinsam isst, das gemeinsam parliert, und dann aber auch klaglos auseinandergeht. Das ist Zivilisation, und nicht dieses aus einem Noteffekt heraus zusammenhocken."
Besteht nicht ohnehin das wichtigste Menschenrecht darin, in Ruhe gelassen zu werden?
"Das wichtigste Menschenrecht ist Freiheit", kontert Anna Schneider. "Freiheit ist kein Menschenrecht per se. Aber Freiheit ist die Basis ganz vieler Menschenrechte, darauf basiert Individualismus. Deswegen ist es immer Freiheit."

Ein Feature von Florian Felix Weyh.
Es sprachen: Bettina Kurth, Max von Pufendorf, Cathlen Gawlich, das Sprecher*innen-Ensemble von Deutschlandfunk Kultur und der Autor, Ton Ralf Perz, Regie Clarisse Cossais. Redaktion: Martin Hartwig.

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