Grunenberg: Liverpool boomt dank Kulturhauptstadttitel

Moderation: Liane von Billerbeck |
Liverpool ist neben dem norwegischen Stavangar Kulturhauptstadt Europas 2008. Der Direktor der Tate Gallery Liverpool, Christoph Grunenberg, glaubt, dass die Verleihung des Titels im Jahr 2003 der Stadt einen regelrechten Boom beschert hat. Zugleich verwies er darauf, dass die alte, ehemals sehr reiche Handelsstadt eine lange kulturelle Tradition fortführe.
Liane von Billerbeck: Schon 1886 hatte eine Londoner Zeitung Liverpool das "New York Europas" genannt. Gemeint war, dass Liverpool vom Rest Englands so weit entfernt sei, wie New York vom übrigen Amerika. Inzwischen ist Liverpool eine der beiden Kulturhauptstädte Europas 2008. Die Beatles, ja, die gehören natürlich untrennbar zu Liverpool, aber was hat die Stadt sonst noch? Am Telefon in Liverpool ist jetzt Christoph Grunenberg. Er leitet die berühmte Tate Gallery Liverpool, das nationale Museum für britische und moderne Kunst und lebt seit sechs Jahren dort. Guten Tag!

Christoph Grunenberg: Guten Tag!

Liane von Billerbeck: Liverpool hat sich ja von der Arbeiter- zur Arbeitslosen- und schließlich zur Kultur- und Dienstleistungsstadt entwickelt. Wir haben Sie das in den letzten sechs Jahren erlebt?

Grunenberg: Es ist erstaunlich, wie sich die Stadt in den letzten sechs Jahren verändert hat. Man kann sich das manchmal gar nicht vorstellen. Wenn ich durch das Stadtzentrum laufe, manche Straßen haben sich total verändert. Es war wirklich eine Stadt, die für viele Jahre einfach am Boden gelegen hat und die sogar von manchen in England aufgegeben wurde, eine hoffnungslose Stadt. Aber besonders in den 90er Jahren hat sich doch hier sehr viel getan und seit 2003, in dem Jahr, in dem Liverpool die Kulturhauptstadtehre verliehen wurde, ist es praktisch zu einer boomenden Stadt geworden. Und wir sind umgeben im Moment von Baustellen, Rieseninvestitionsprojekten.

von Billerbeck: Warum ist Liverpool denn so ein gutes Pflaster für Kultur?

Grunenberg: Die kulturelle Tradition geht eigentlich in das 19. Jahrhundert zurück. Liverpool wurde gerade in diesem Jahrhundert als zweite Stadt des Empires genannt, nach London. Es war das Tor zur Welt. Der Handel hat die Stadt reich gemacht. Es war eine sehr wohlhabende Stadt bis eigentlich in das frühe 20. Jahrhundert, Mitte des 20. Jahrhunderts sogar. Was das Problem gewesen ist: Niedergang des Handels, des Hafens, der traditionellen Industrien.

Aber auf der anderen Seite hat eben die Stadt gerade von ihrem kulturellen Erbe eigentlich immer sehr viel genossen. Bereits im 19. Jahrhundert wurde die Walker Art Gallery errichtet, einer der besten Kunstsammlungen Alter Meister bis zur Moderne im Land. Die Royal Philharmonic Orchestra gibt es auch bereits seit dem 19. Jahrhundert. Und es war eigentlich eine Stadt, die immer kreativ gewesen ist, auch gerade in den letzten 50 Jahren natürlich in der Musik am meisten bekannt, aber auch im Theater, in der Literatur, in der Poesie, die Liverpool Poets in den 60er Jahren und natürlich auch in den letzten Jahren mit der Tate Liverpool, die seit 1988 sich hier in der Stadt befindet und anderen neuen Institutionen, die gerade in der bildenden Kunst die Stadt eigentlich zu einem Zentrum machen, und das in England unvergleichlich ist außerhalb Londons.

von Billerbeck: Spielt eigentlich auch die Mentalität der Liverpooler eine Rolle, dass Liverpool so eine Kulturstadt ist?

Grunenberg: Auf jeden Fall. Liverpool ist eine Stadt, die von der Emigration, wie von der Immigration gelebt hat. Sie befindet sich im Nordwesten Englands, direkt gegenüber Irlands. Und der irische Einfluss, der keltische Einfluss von Irland, aber auch von dem nahe gelegenen Wales ist ganz entschieden. Es ist eine Stadt von Leuten, die sehr extrovertiert sind, die nach außen gehen, die erzählen, die eigentlich Spaß am Leben haben wollen, auch in schwierigen Umständen. Und diese Haltung hat eigentlich auch hier die Kunst und besonders natürlich wiederum die populäre Musik und populäre Kultur sehr geprägt.

von Billerbeck: Herr Grunenberg, es gab kritische Stimmen. Ein Lokaljournalist, der sprach zum Beispiel von Kleingeistigkeit, Unprofessionalität und Fehlplanungen. Und es hieß, Liverpool nutze, anders als Glasgow das getan hat, die Chancen nicht, die mit diesem Titel Kulturhauptstadt Europas verbunden sind. Teilen Sie diese Kritik?

Grunenberg: Da ist bestimmt etwas dran. Obwohl ich im Endeffekt sagen würde, dass Liverpool als Stadt unheimlich bereits profitiert hat von der Kulturhauptstadt und auch in der Zukunft profitieren wird. Es ist einfach ganz wichtig, gerade in Großbritannien, dass sich das Image von Liverpool verändert, dass für viele Jahre ungerecht negativ gewesen ist. Man muss sich wirklich auch nur im Moment im Stadtzentrum umschauen, wie die Stadt wieder erblüht, was im Moment investiert wird, wie wirklich sich das Stadtbild grundlegend verändert, wie es sich wahrscheinlich seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr verändert hat. In dieser Hinsicht wird die Stadt auf jeden Fall, auch in der Zukunft, in der längeren Zukunft, profitieren.

von Billerbeck: Sie haben es gesagt. Es wird sehr viel gebaut derzeit. Liverpool ist eine große Baustelle. Aber ein Haus auf jeden Fall wird nicht gebaut, nämlich dieses besondere Bauwerk, dass da am Fluss stehen sollte, das den schönen Namen "Die Wolke" bekommen hatte. Warum ist daraus nichts geworden? Und bedauern Sie das?

Grunenberg: Es war ein interessanter, ein sehr erfindungsreicher, fantastischer Vorschlag eigentlich von Will Oglethorpe, einer der prominentesten britischen Architekten. Es wäre ein wunderbarer Kontrast zu den sogenannten drei Grazien, das sind drei monumentale Klötze aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, die wirklich den Reichtum und die Macht Liverpools nach außen demonstrierten, sehr konservativ eigentlich in ihrer architektonischen Sprache. Und das war im Endeffekt wahrscheinlich auch das Problem. Es war ein kühner, aber im Grunde genommen wahrscheinlich finanziell und auch von technischer Hinsicht fast unmöglicher Vorschlag. Es ist schade, dass es nicht passiert ist.

Aber auf der anderen Seite ist diese Gebäude auch inzwischen mit einem guten, vielleicht nicht ganz so kühnem Gebäude ersetzt worden, das in dem nächsten Jahr oder Jahren errichtet wird. Und außerdem wird sich ja in der Nähe dieses Gebäudes ein fantastisch neues Gebäude befinden, das neue Museum of Liverpool, von dänischen Architekten entworfen, das auch ein ganz kühner, sehr dynamischer Entwurf ist, der eigentlich sehr gut auf die umgebenden Gebäude reagiert, aber trotzdem sehr zeitgenössisch ist.

von Billerbeck: Sie haben es erzählt, in Liverpool wird sehr viel gebaut. Das wird man nicht alles fertig kriegen in diesem einem Jahr, wo Liverpool den Titel Kulturhauptstadt trägt. Was meinen Sie, wohin wird sich Liverpool entwickeln? Wie wird die Zukunft der Stadt aussehen? Wird sie ihre Eigenwilligkeit bewahren können?

Grunenberg: Daran habe ich eigentlich gar keinen Zweifel. Die Leute hier sind so ursprünglich in ihrer Erzählfreude, in ihrem Humor, in ihrer manchmal Starrköpfigkeit. Es gibt natürlich eine Gefahr, dass durch die Investitionen, dass große Ketten, Ladenketten, in die Stadt kommen, dass Liverpool aussehen wird wie jede andere Stadt.

Aber auf der anderen Seite ist das Stadtbild so markant und die Geschichte der Stadt so spezifisch, dass das, glaube ich, kaum passiert. Die Investitionen, gerade im Stadtzentrum, sind auch sehr sensibel gemacht. Es geht nicht darum, einen Riesenshoppingzentrum zu bauen. Es geht darum, ganz spezifisch architektonisches Erbe zu erhalten. Und es wurde sehr entschieden darauf geachtet, dass viele verschiedene Architekten sich mit verschiedenen Projekten hier verwirklichen und wirklich ein interessantes Stadtbild, das hoffentlich auch noch im nächsten Jahrhundert interessant sein wird, verwirklicht wird.