Grundschule

Viele Kinder sind "eigentlich nicht beschulbar"

09:06 Minuten
An bunten Haken hängen orangefarbene Stoffbeutel.
Der Grundschule werden immer mehr Erziehungsaufgaben aufgebürdet. Das beklagt die Grundschullehrerin Julia Petry in einem offenen Brief auf Facebook. © imago images / Christine Roth
Julia Petry im Gespräch mit Dieter Kassel · 09.03.2020
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Julia Petry ist gerne Grundschullehrerin. Doch die Schwierigkeiten würden immer mehr, sagt die Pädagogin. Vor allem, weil die Zahl der Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und sozialen Problemen "extrem" zugenommen habe.
Eine Stunde mehr pro Woche sollen bayerische Grundschullehrerinnen und –lehrer nach dem Willen des bayerischen Kultusministeriums künftig unterrichten. Für die Grundschullehrerin Julia Petry war diese Ankündigung der Anlass, in einem offenen Brief auf Facebook ihren Unmut auszudrücken. Nicht nur über die aktuelle Maßnahme, sondern generell über die immer schwieriger werdende Situation von Grundschullehrern.
Probleme bereitet Petry zufolge vor allem die große Heterogenität der Schüler, auch wenn das an einer Grundschule zunächst etwas ganz Normales sei – und etwas Gutes: "Diese Vielfalt ist positiv und gewinnbringend", betont die Lehrerin.
Aber in den letzten Jahren habe die Zahl der Kinder mit emotionalen oder sozialen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten extrem zugenommen: "Das heißt, sie können sich nicht konzentrieren, kaum zuhören, Stillsitzen fällt wahnsinnig schwer. Es gibt unglaublich viele Konflikte, die ausgetragen werden, und es fällt einfach diesen Kindern wahnsinnig schwer, sich zurückzunehmen."

"Konnte man vielleicht in der Vergangenheit davon ausgehen, dass der überwiegende Teil der Schüler den Anforderungen der Schule gewachsen ist, so finden sich heute massiv viele Kinder in den Klassenzimmern, die in diesem Rahmen eigentlich nicht beschulbar sind. Sei es, dass Kind A von klein auf Stunde um Stunde vor der Playstation verbracht und keinerlei Lust auf den ‚anstrengenden‘ Unterricht hat, weil sein Gehirn, sein Belohnungszentrum bereits auf Videospiel-Niveau konditioniert ist. Sei es, weil Kind B zu Hause keine Zuneigung und Strukturen erfahren hat und dementsprechend in einem Sozialverbund, der Rücksichtnahme und Empathie erfordert, gänzlich verloren ist. Sei es, dass Kind C mit Eltern aufwächst, die nur vor dem Smartphone hängen – aus welchen Gründen auch immer – was beim Kind in einer extremen Sprachentwicklungsstörung resultiert. Hinzu kommen dann noch die Kinder, die – weil Erziehen nun durchaus eine anstrengende Sache ist – überhaupt keine Grenzen kennen und alles dürfen, die gar nicht gelernt haben, sich auch einmal zurückzunehmen. Diese Herausforderung wird nun in vielen Fällen auf die Schule übertragen und an die Lehrkraft übergeben, denn diese werde es schon richten, in der Schule werde das Kind schon Anstand lernen." (Aus Julia Petrys offenem Brief)

Petry vermutet die Ursache für diese Entwicklung in den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, vor allem in der Mediennutzung. "Ein Kind, was es jetzt beispielsweise gewöhnt ist, von klein auf die Zeit vor Fernseher und Tablet zu verbringen, wird natürlich eine andere Motivation vielleicht entwickeln für die Schule, andere Voraussetzungen entwickeln als ein Kind, dem regelmäßig vorgelesen wird oder das viel an der frischen Luft spielen kann."

Helikoptereltern – und Eltern, die sich gar nicht kümmern

Verhaltensauffällige Kinder hätten Auswirkungen auf den gesamten Unterrichtsalltag, betont die Lehrerin. Denn man wolle sich natürlich diesen Kindern zuwenden und ihnen gerecht werden. "Aber auch den anderen Kindern muss man ja noch gerecht werden. Und das ist eigentlich das, was das Unterrichten gerade so schwierig macht."
Die gesellschaftlichen Veränderungen spiegeln sich offenbar auch in der Elternarbeit wider. Auf der einen Seite gebe es die Eltern, für die es "sehr wichtig" sei, was in der Schule passiere. "Viele Eltern fragen wöchentlich oder alle zwei Wochen nach, wie es steht", sagt Petry.
"Und auf der anderen Seite haben wir die Eltern, die vielleicht den Schwerpunkt zu Hause nicht so sehr auf die Schule setzen, wo dann die Elternarbeit deshalb schwierig wird, weil man sie erreichen muss – oder eben noch zusammen mit anderen Behörden zusammenwirken muss, um halt da die Kinder so richtig in die Schule mit einzubinden."

"Elternarbeit: 'Dafür gibt es doch die Sprechstunde', werden Sie sagen. Was aber, wenn Klein-Heinzi jeden Tag andere Kinder verprügelt und man deshalb täglich in den Pausen oder nach Schulschluss mit der Mutter telefonieren muss? Was aber, wenn Klein-Jutta schon morgens vor der Schule weint und man deshalb jeden Tag zusammen mit den Eltern eine Viertelstunde früher anfängt, um das Kind zu beruhigen? Was aber, wenn Klein-Ole mit der familiären Situation wegen Scheidung/ Trennung etc. überhaupt nicht zurecht kommt, dies in der Schule kompensiert und man darum ständig in Kontakt mit beiden Eltern, Jugendamt, Schulpsychologen ist? Was aber, wenn Klein-Mahmud schwer traumatisiert ist und man durch wöchentliche Treffen mit den Betreuern und den Eltern versucht, Hilfe zu organisieren? Was aber, wenn Klein-Heidi eine Vierfachdiagnose hat und man aus diesem Grund eigentlich jeden Tag mit dem Vater kommunizieren müsste und immer wieder Hilfeplangespräche mit anderen Behörden stattfinden?" (Aus dem offenen Brief)

Von den Behörden wünscht sich Petry mehr Sensibilität für die gestiegene Belastung. "Wir möchten allen Kindern gerecht werden", betont sie.
"Das ist natürlich immer eine schwierige Angelegenheit. Aber je schwieriger sozusagen die Voraussetzungen sind, umso weniger können wir eigentlich dieses hohe Ideal erfüllen, das wir uns alle gesetzt haben."
(uko)
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