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Dimitris Papaioannous in Wuppertal
Geschlechter-Scherzchen mit neuem Zauber

Seit dem Tod von Pina Bausch vor neun Jahren tat sich ihr Tanztheater in Wuppertal mit einem Neustart schwer. Jetzt versuchte der Grieche Dimitris Papaioannou sein Glück. In seiner Heimat gilt er als Star, er inszenierte die Olympischen Spiele 2004 in Athen. Mit dem künstlerischen Werk von Pina Bausch fühlt er sich eng verbunden. Sein Stück für Wuppertal trägt den eigenwilligen Titel "Seit sie" – und ist dort das erste abendfüllende Stück nach Pina Bauschs Tod.

Von Nicole Strecker | 13.05.2018
    "Neues Stück I" - Ein Stück von Dimitris Papaioannou am Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, Mai 2018
    "Neues Stück I" - Ein Stück von Dimitris Papaioannou am Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, Mai 2018 (Tanztheater Wuppertal Pina Bausch / Julian Mommert)
    Erster Auftritt: Ein Stuhl. Da fühlt man sich doch gleich heimisch, denn Stühle gehören zum Wuppertaler Tanztheater wie langes Frauenhaar und Pumps. Kaum ein Stück der berühmten Gastwirttochter Pina Bausch ohne diese Requisite. Ihren berühmtesten Auftritt hatten die Stühle wohl in "Café Müller" mit einer gespensterblassen Kompaniechefin, die zwischen ihnen mit geschlossenen Augen und ausgestreckten nackten Armen herumtapste als Sinnbild für feminine Verletzlichkeit. Jetzt nutzt sie Choreograf Dimitris Papaioannou, der quasi als Prinz aus Griechenland angereist kam, um das Ensemble aus dem Dornröschenschlaf einer neunjährigen Kreationskrise wachzuküssen - er also nutzt sie für eine Parade quer über die Bühne. Auf den Sitzflächen der Stühle stehen 16 Tänzer der Kompanie und wie bei einer Expedition durch Sumpf-Gelände, nehmen sie zur Fortbewegung immer hinten einen Stuhl weg, stellen ihn vorne an.
    Ikonoklastiker aus Liebe
    Man weiß ja: Die Wuppertaler Bühne - sie ist ein gefährlicher Boden für den ersten Choreografen, der seit Pina Bauschs Tod dort ein abendfüllendes Stück kreiert. Doch die Entscheidung für Dimitris Papaioannou ist klug getroffen. Denn der Athener hat sich auch in früheren Werken als ein Ikonoklastiker aus Liebe gezeigt, ein Bilderstürmer, der die Kulturgeschichte zitiert, ihre Heiligtümer verfremdet, neu montiert und doch huldigt. So verfährt er nun auch mit dem Erbe von Pina Bausch. "Seit sie", heißt sein Stück, und reflexhaft ergänzt man "seit sie, also Pina Bausch, die Welt verlassen hat". Eine Hommage also, in der viele Requisiten und Situationen aus ihren Stücken auftauchen, aber Papaioannou entlockt ihnen doch immer neuen, immer anderen Zauber.
    Zum eigenen Mythos gewordenes Tanztheater
    Eine pfeifende, gurrende Frauengruppe stellt neckisch einen nackten Kollegen bloß. Ein Mann schlitzt mit einer Schere die Kleidung einer am Boden liegenden Frau auf. Tänzerinnen in seidigen Abendkleidern werden von ihren Partnern zu Walzertakten so ekstatisch wild durch die Luft geschwungen wie gewichtslose Puppen. Doch Papaioannou zeigt: Diese Geschlechter-Scherzchen, diese grausam-zärtlichen Tanztheater-Männer und -Frauen sind heute längst ihr eigener Mythos geworden, sie sind gewissermaßen Archetypen der Kultur. So gesellen sich bald gleichberechtigt weitere Fantasiewesen mit christlicher, antiker, märchenhafter Symbolik zu den Bausch-Typen hinzu: Ein Tänzer stolziert als nackter Faunus über die Bühne, halb Mann, halb Ziegenbock mit Glocken zwischen dem Gemächt. Aus dschungelgrünem Blattwerk raschelt eine blasse Nymphe mit langem roten Haar. Man meint einen muskulösen Michelangelo-Mann auf dramatisch bewegtem Stoff zu erkennen und aus dem Haar einer Tänzerin ragen lange Mikadostäbchen, die sie aussehen lassen wie eine Madonna im Strahlenkranz.
    Müllhaufen aus weichen Schaumstoff-Matratzen
    Und doch sind alle diese Bilder nur mit betont einfachen Mitteln nachinszenierte Imitationen. Trugbilder wie auch die schwarze Bühnenrückwand, die auf den ersten Blick wie eine zerklüftete Mauer aussieht, in Wahrheit aber eine Art Müllhaufen aus weichen Schaumstoff-Matratzen ist. Auch den Tanz gibt es nur in Fetzen, dafür viele Zirkusbalancen, zerteilte Körper wie beim Varieté, optische Täuschungen. So wird die Kunst selbst zum Thema an diesem Abend, der sich als Bricolage aus Trümmern entpuppt. Als eklektische Mythenverwertung, vielleicht im Sinne von Claude Lévi-Strauss als Krisenbewältigung, in der der Mensch - also das Tanztheater - sich als kreierendes Wesen neu entdeckt. Keine gefühlsgeladenen Seelenerkundungen, keine herzzerreissenden Tragikomödien - für die bleibt in Wuppertal Pina Bausch die einzig wahre Instanz. Sondern kraftvoll-abstraktes Bilder- und Körpertheater im Dialog mit dem Erbe. Ein Tanztheater im Schattenreich. Kühl, aber überzeitlich gültig.