"Grundgesetz - ein chorischer Stresstest"

Irritation am Brandenburger Tor

08:32 Minuten
Ein chorischer Stresstest von Marta Górnicka - Probenfoto von ©Ute Langkafel
Ein Chor, der die Vielfalt der Gesellschaft abbildet: Sängerinnen bei den Proben zu Marta Górnickas Stresstest © ©Ute Langkafel
Aljoscha Begrich im Gespräch mit Timo Grampes · 02.10.2018
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Die Regisseurin Marta Górnicka unterzieht das Grundgesetz einem Stresstest - mit 50 Schauspielern in einer Live-Performance am Brandenburger Tor. Die Performance soll die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft zeigen, sagt der Dramaturg Aljoscha Begrich.
Timo Grampes: Morgen, am Tag der deutschen Einheit, werden am Brandenburger Tor in Berlin 50 Schauspielerinnen und Schauspieler aufschlagen – professionelle und nicht professionelle. Sie werden ein Chor sein und sie werden vom Grundgesetz singen. Sie nennen das, was sie tun, einen performativen Test am Grundgesetz. Und was das bedeutet, darüber spreche ich mit Aljoscha Begrich, der als Dramaturg dafür verantwortlich zeichnet. Tag, Herr Begrich!
Aljoscha Begrich: Ja, schönen guten Tag!
Grampes: "Grundgesetz. Ein chorischer Stresstest von Marta Górnicka", so heißt das, was da morgen passiert. Sie ist die Regisseurin, und dahinter steht das Gorki-Theater. Was ist die Idee?
Begrich: Ja, da gibt's, glaube ich, ganz viele Ideen auf einmal, aber die zentrale Idee war eigentlich, sich mal diesen ja doch eigentlich wunderbaren Text des Grundgesetzes vorzunehmen und den zu untersuchen. Deswegen haben wir auch Stresstest gesagt, das ist ja ein Begriff aus der Wissenschaft, wo bestimmte Situationen simuliert werden, um zu gucken, wie sich bestimmte Sachen – zum Beispiel eine Bank in einer Krise – verhält, wo wir sagen, unsere Gesellschaft, unsere Demokratie ist in einer Krise, und wie verhält sich eigentlich dieser Text dazu.
Grampes: Stresstest heißt, ich setze etwas Belastung aus. Welche Belastung muss das Grundgesetz bei Ihnen denn aushalten?
Begrich: Ich glaube, in der Gesellschaft ist es ja gerade von verschiedenen Seiten irgendwie angegriffen, natürlich vor allem von rechts, und bei uns prüfen wir das ab, für wen es eigentlich noch steht. Deswegen haben wir auch diesen sehr diversen Chor zusammengestellt – Sie haben das ja schon angesprochen, dass es eben nicht nur Schauspieler bei uns aus dem Ensemble sind, sondern eben eine sehr breite Masse aus der Berliner Stadtgesellschaft –, um zu sagen, für wen steht eigentlich dieser Text und was bedeuten diese Sätze für bestimmte Leute.
Ganz konkret zum Beispiel, wenn es dann heißt, "alle Deutschen genießen Freizügigkeit im Bundesgebiet", und das sagen Geflüchtete, die jetzt gerade hier sind und sich nicht bewegen können, dann hat man natürlich sofort einen Kontrast zwischen diesen Sätzen und deren Bedeutung.

Verfremdung durch musikalisches Arrangement

Grampes: Der Chor wird jetzt aber nicht nur singen, "alle Deutschen genießen Freizügigkeit im Bundesgebiet", sondern Sie werden auch verfremden, damit arbeiten, mit dem Text.
Begrich: Verfremden ja, aber nur in dem Sinne, dass das musikalisch arrangiert wird, also bestimmte Sätze werden wiederholt oder werden auseinandergezogen, aber wir haben jetzt keine Fremdtexte reinmontiert, sondern es geht schon darum, diese Sprache, die ja eigentlich eine sehr schöne Sprache ist, die sie da 1948/49 entwickelt haben, also eine sehr bürgernahe, dialogoffene Sprache, in der dieses Grundgesetz verfasst wurde, noch mal zu überprüfen oder auch eben neu zu hören. Und natürlich, wenn ich dann zehnmal höre, "die Würde des Menschen ist unantastbar", dann klingt das plötzlich ganz anders, und ich fang an, darüber nachzudenken.
Grampes: Sprechen wir über den Chor. Marta Górnicka hat die Regie, sie arbeitet seit vielen Jahren mit Chören. Das Staunenswerte an ihr sei, hat der "Tagesspiegel" mal geschrieben, wie es ihr gelinge, ihre vielköpfigen Klangkörper nicht als Instrumente der Überwältigung einzusetzen, sondern wie viel präzise Bewegung, welchen Nuancenreichtum und welche Fokusmomente sie schaffe.
Wie arbeitet sie nun mit dem Chor, der morgen das Grundgesetz besingt, dazu gibt es ja noch kein Audiomaterial. Wie können wir uns das vorstellen, auch bei den Proben?
Begrich: Das Besondere an ihrer Arbeitsweise ist ja, ich sag immer, das ist ein individualisierter Chor, das heißt, es ist nicht so, wie man das auch im antiken Chor kennt, dass eben diese Leute immer gleichzeitig alle sprechen, was ja auch eine unheimliche Gewalt innehat, sondern dass es eben auch auseinanderdividiert wird. Das heißt, manchmal sprechen 15 Leute, manchmal sprechen acht, es gibt unterschiedliche Koalitionen innerhalb des Textes, innerhalb des Chores, und damit wird es ja quasi automatisch ein Abbild einer Gesellschaft, die im Widerspruch ist. Und manchmal sind wir ja auch als Gesellschaft alle einer Meinung, manchmal geht es in sieben Meinungen auseinander, und diese Spannung innerhalb der Gruppe, innerhalb des Chores, die kann man eigentlich dann live hören.

Gänsehaut-Wort "Freiheit"

Grampes: Und wie das klingt, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, das können Sie übrigens morgen bei uns hören in "Fazit" ab 23:05 Uhr. Herr Begrich, zum Text vielleicht jetzt noch mal etwas genauer, wohl die wenigsten haben den Text mal komplett gelesen, also das Grundgesetz von vorne bis hinten. Sie gehören zu diesen wenigen, weil Sie als Dramaturg für diese Performance natürlich dazu gezwungen sind. Was ist Ihnen denn aufgefallen bei der Lektüre, woran sind Sie hängen geblieben?
Begrich: Es gibt da natürlich verschiedene Sachen, die irgendwie toll sind. Vor allem, man kann sehr leicht unterscheiden, was sind alte Gesetze und was sind neue Ergänzungen. Alles, was eigentlich leicht verständlich und knapp, prägnant beschrieben ist, das ist eben aus diesem antifaschistischen Grundgestus nach der Katastrophe ja auch der Demokratie und des Zweiten Weltkriegs sehr leicht zu verstehen, und alles, was so ein bisschen komplizierter und komplexer ist, sind dann eben späte Ergänzungen. Das ist eigentlich sehr interessant.
Grampes: Haben Sie ein Beispiel?
Begrich: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Punkt. Das ist klar, was damit gesagt ist. Wenn ich mir heute den Artikel angucke, der hat irgendwie einen Haufen Ergänzungen und Fußnoten, das kann man im Grunde, wenn man kein Fachmann ist, nicht mehr verstehen.
Und das zweite, was ganz toll ist, wenn wir uns auch mit Leuten vom Bundesverfassungsgericht unterhalten und beraten, dass man diesen Text eben als etwas Ganzes verstehen muss. Und damit sind wir auch sehr nah am Theater, weil ich kann halt ein Theaterstück oder generell Literatur nur aus dem Ganzen verstehen, also von vorne bis hinten, und dann kann ich mir einzelne Sätze rausnehmen, aber die stehen immer im Bezug zu allen anderen Gesetzen.
Grampes: Und doch sind es ja auch Einzelworte, die herausragen, die immer wieder vorkommen. Welche Begriffe aus dem Grundgesetz werden denn morgen eine große Rolle spielen?
Begrich: Ja, da sind wir auch wieder ganz nah bei dem Chor, weil wir natürlich auch Vorgespräche mit den Leuten geführt haben, die ja sehr unterschiedliche Hintergründe auch haben, und das war auch sehr interessant, was die Leute erwähnen. Da war zum Beispiel ein älterer Berliner deutscher Bürger, der dann sagte, ihm ist das Wort "Volk" ganz wichtig, und er fragt sich, was ist eigentlich das Volk, also was sind die Leute, die wählen dürfen, die repräsentiert werden, aber in welchem Widerspruch stehen zu den Leuten, die nicht wählen können, die die Bevölkerung sind. Und was ist da eigentlich für eine Kraft dazwischen, was bedeutet es, wenn da steht, alle Deutschen, und was bedeutet es, wenn da steht, alle Menschen.
Zum anderen haben wir dann aber auch mit einem jungen minderjährigen Geflüchteten gesprochen, der sagt, für ihn ist das Wort Frieden das Wort, das bei ihm am meisten Gänsehaut auswirkt, weil er daran nicht mehr glauben kann. Und das sind, glaube ich, die Spannungen, innerhalb der sich das bewegt.
Grampes: Nun leben wir in polarisierten Zeiten. Die einen schreien, "Wir sind das Volk!", und die anderen besuchen ein Konzert gegen Rechts. Wie kann Ihre Aufführung morgen so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen zwischen Menschen, die sich im Alltag nicht mehr so viel zu sagen haben?
Begrich: Ich weiß gar nicht, ob Gemeinschaftsgefühl das richtige Ziel ist. Für mich ist dann viel eher das Ziel, dass es zu einer Irritation kommt oder zu einer Wahrnehmung dessen. Deswegen bin ich persönlich auch sehr froh, dass wir vor diesem Bild von JR, der ja noch mal die Bevölkerung von '89 da ja so vergrößert aufs Brandenburger Tor geklebt hat, das aufführen können, weil sich eben diese Bevölkerung verändert hat. Die ist unterschiedlicher, die ist nicht mehr homogen, die ist heterogen, die ist divers. Und das ist die Herausforderung, der wir uns irgendwie stellen müssen und gucken, wie kann dieser Text dieser gegenwärtigen Realität eine Entsprechung finden.

Die Grenzen der Freiheit

Grampes: Gemeinschaftsgefühl, das ist nicht Ziel dieser Aufführung, aber im Chor finden doch alle unterschiedlichen Stimmen Platz.
Begrich: Die finden Platz, aber es sind ja eben nicht immer nur alle einer Meinung. Es gibt ja im Chor auch diese Widersprüche, dass die einen dies sagen und die anderen das.
Grampes: Aber bei Ihnen können die es noch in einer Gemeinschaft aushalten.
Begrich: Ja, absolut. Aber wir hoffen oder ich glaube da schon so weit an die Demokratie und eben auch an diesen Text, dass der stark genug ist, diese Differenzen, die die Gesellschaft momentan hat, und diese Spannungen, die das nach außen ziehen, dass er das binden kann. Das sind ja auch die Artikel der wehrhaften Demokratie und die Grenzen der Demokratie, denn es geht ja nicht nur um Freiheit, Freiheit, Freiheit, was jetzt immer irgendwie so viel im Gespräch und als Icon so groß da ist, sondern auch die Grenzen der Freiheit. Und die müssen ganz klar gezogen werden, um zu sagen, was ist hier verhandelbar und was kann unsere Gesellschaft aushalten.
Grampes: Aljoscha Begrich, Dramaturg eines chorischen Stresstests, der morgen ab 15:15 Uhr am Brandenburger Tor in Berlin aufgeführt wird, "Grundgesetz" heißt der. Vielen Dank fürs Gespräch!
Begrich: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

"Grundgesetz" - ein chorischer Stresstest, von Marta Górnicka, Uraufführung am 3. Oktober am Brandenburger Tor in Berlin. Eintritt frei.

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