Grundgefühl Heimatlosigkeit

30.01.2012
Der Lyriker Hans Eckardt Wenzel forderte kurz vor dem Umbruch 1989 in einer Resolution von Musikern und Liedermachern Reformen in der DDR. Im Osten Deutschlands ist er heute sehr, im Westen eher wenig bekannt. Nun erscheint ein neuer Band mit seinen Gedichten.
In Hans-Eckardt Wenzels Gedichtband "Antrag auf Verlängerung des Monats August" aus dem Jahr 1986 findet sich das Gedicht "Das Meer geht heute bis an meine Zehen". Darin beklagt sich das Lyrische Ich, dass es den Rand seines kleinen Landes erreicht hat, wenn seine Zehen Fühlung mit dem Meer nehmen. Auch für den 1956 in Kropstädt/Wittenberg geborenen Autor weckte die Ostsee zu dieser Zeit Sehnsüchte. Die vermag das lyrische Ich nicht zu stillen, denn, am Ufer stehend, kann es keinen Schritt mehr weiter gehen, weil das Meer eine Grenze markiert. Mit dem Titel seines neuen Gedichtbandes "Seit ich am Meer bin", wendet sich Wenzel erneut dem Meer zu, das ganz unbeeindruckt von inzwischen stattgehabten politischen Wenden weiterhin Welle auf Welle ans Ufer schickt. Auf das Meer ist Verlass. Wann immer man zu ihm zurückkommt, es ist ewig das gleiche Meeresrauschen zu hören, zwar ein Rauschen in Variationen, aber dennoch ein Rauschen.

Dass in unruhigen Zeiten wenigstens auf die Natur Verlass ist, hat etwas Beruhigendes. Das Meer, im vorletzten Gedichtband ein Element unter anderen, ist im neuen Gedichtband von elementarer Bedeutung. Dem traumlosen lyrischen Ich schenkt es im titelgebenden Gedicht Träume. Auch wenn die sich durch Schwere auszeichnen, ist das Ich mit dieser Meereszuwendung einverstanden, denn es will sich ja nicht aus der Zeit träumen. Wenzel entwirft keine sich der Idylle zuneigenden Traumburgen, auch wenn die Hoffnungen, die das lyrische Ich in der Vergangenheit hegte, auf Sand gebaut waren. Es "hasst sein Zuhause / Und will nicht wieder hin", wie es in "Kleines Cervennen Lied" heißt, einem der schönsten Gedichte aus diesem sehr gelungenen Lyrikband. Diese Heimatlosigkeit ist eines der Grundgefühle, denen Wenzel in seinen Gedichten immer wieder Ausdruck verleiht. Es ist die Fremde, mit der er sich arrangieren muss, es ist das Gefühl des Fremdseins, das ihn begleitet – "weich verzeichnet verschwimmen meine Orte" lautet eine Zeile aus dem Gedicht "In meiner Stadt sind jetzt die Barbaren zu Hause".

Nicht nur die Orte verschwimmen, sondern auch die Jahre. Zeit ist vergangen, auch wenn das Meer den Eindruck erweckt, als wäre alles noch wie immer. Inzwischen ist das lyrische Ich, das sich im neuen Band zu Wort meldet, in der Welt herumgekommen. Nun ruft ihm das Meer mit der Zeit, von der es rauschend erzählt, eine andere Grenze in Erinnerung. Nicht nur in seinen Liedern, sondern auch in den neuen, mit sehr viel Melancholie unterlegten Gedichten, erweist sich Wenzel als ein hoffnungslos Verlorener, der sich nicht damit abfinden will, dass das Glück nur mit der Zukunft Hand in Hand gehen soll. Er findet es auch in der Vergangenheit, wenn er sich erinnert. Zum Glücklichsein aber bleibt dem sich nach Glück Verzehrenden nur wenig Zeit. Wenzel ist ein wacher, ein die Widrigkeiten der Zeit nie aus den Augen verlierender dichtender Liedermacher, der von der Schönheit nicht lassen will und der zugleich benennt, wodurch sie bedroht wird. Das hat Wenzels Gedichte früher ausgezeichnet. Diesen Anspruch hat er nicht aufgegeben. Eigentlich muss man Wenzel hören, aber manchmal sollte man ihn auch lesen, denn die Gedichte nehmen einen anders mit als die Lieder und man kann sie anders mitnehmen.

Besprochen von Michael Opitz

Hans-Eckardt Wenzel: Seit ich am Meer bin. Gedichte
Matrosenblau Verlag, Berlin 2011
102 Seiten, 18 Euro
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