Grünen-Politiker Sergey Lagodinsky

Als säkularer Jude ins Europaparlament

06:49 Minuten
Sergey Lagodinsky
Sergey Lagodinsky hat es ins Europaparlament geschafft. © picture alliance / dpa / Paul Zinken
Von Carsten Dippel · 31.05.2019
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Sergey Lagodinsky hat es geschafft: Er wird für die kommenden fünf Jahre im Europaparlament sitzen. Der Jurist aus Berlin-Pankow ist der einzige Jude unter allen deutschen Europaparlamentariern.
Sein Einsatz hat sich gelohnt. Als "Sergey zum Ausleihen" tourte er durch Berliner Wohnzimmer, er saß auf Podien, hat über Migration und Teilhabe diskutiert, an Straßenständen für grüne Projekte geworben. Bis zuletzt hat Sergey Lagodinsky Wahlkampf gemacht. Nun wird der promovierte Jurist Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament vertreten.
"Ich bin jemand, der eben in der Sowjetunion aufgewachsen ist und für mich ist dieses Leben in diesem Europa ein Stück Freiheit. Und für mich ist es eben total wichtig, diese Demokratie zu erhalten, darum zu kämpfen und auch konstruktiv nach Wegen zu schauen, den Zusammenhalt dieser Gesellschaft zu erhalten."

Durch Zufall nach Deutschland

Es waren wilde Zeiten, damals, Anfang der 90er, als das kommunistische System zusammenbrach und nicht nur die wirtschaftlichen Sorgen groß waren, sondern auch immer deutlicher Antisemitismus zu Tage trat. Ursprünglich wollte die Familie nach Israel auswandern, doch dann bot sich überraschend die Möglichkeit, nach Deutschland zu gehen. Und so kam er wie Tausende andere als jüdischer Kontingentflüchtling 1993 in dieses Land. Mit seinen knapp 18 Jahren begann hier für ihn ein ganz neues Leben.
"Dieses Gefühl belogen, also jahrelang belogen worden zu sein und eben diese ganz neuen Chancen zu erhalten, sich selbst zu verwirklichen, das war sehr prägend."
Aufgewachsen ist Lagodinsky im Süden Russlands, in Astrachan an der Wolga. Die jüdische Tradition spielte zu Hause kaum eine Rolle, der Urgroßvater war der letzte in der Familie, der noch regelmäßig in die Synagoge ging. Sergey wuchs so atheistisch auf, wie alle seine Mitschüler. Für seine Familie sei es aber zugleich selbstverständlich gewesen, dass sie sich zu ihrem Jüdischsein bekannte und das mit einem gewissen Selbstbewusstseins als einer Minderheit in der Sowjetunion, wie Lagodinsky sagt. Eine Erfahrung, die auch prägend für seine Haltung zur jüdischen Identität ist.

Jüdisch, nicht religiös

"Meine Position ist, dass wir anerkennen müssen, dass jüdische säkulare Identitäten gleichberechtigt sind. Und dass es möglich ist, jüdisch zu sein, ohne Judentum aktiv zu praktizieren oder gläubig zu sein. Ich hatte halt Glück im Unglück, dass ich aufgewachsen bin mit einem Pass, wo es stand, dass ich Jude bin. Ich hatte keine andere Wahl. Und dann arrangiert man sich damit, dann eignet man sich diese Identität auch gezwungener Maßen an."
Lagodinsky hat sich viele Jahre in der jüdischen Gemeinde engagiert, saß in der Berliner Repräsentantenversammlung, war aktiv in der Opposition. Er weiß um die Schwierigkeiten von Neuankömmlingen in einem fremden Land, davon, wie es ist, mehrere Identitäten zu haben. Die jüdischen Gemeinden hätten von den Zuwanderern viel gelernt, ist er überzeugt.
"Das war auch ein schmerzhafter Prozess auch hier für die Gemeinden. Und ich glaube, dass durch die russische Zuwanderung diese doch relativ verkrusteten Identitätsvorstellungen über das Jüdischsein in der damaligen jüdischen Gemeinschaft doch aufgebrochen wurden."

Grün ist sein neues Rot

Sein politisches Engagement begann nach seiner Einbürgerung im Jahr 2000, als er zunächst in Kassel in die SPD ging. Später gründete er den Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokraten. Es war ihm wichtig, an das jüdische Erbe der Sozialdemokratie anzuknüpfen. Bis er aus Protest gegen den unklaren Kurs seiner Partei mit Thilo Sarrazin ausgetreten ist und zu den Grünen wechselte. Ein Gedanke, der in seiner politischen Arbeit immer wieder auftauche, sei die Idee von Tikkun Olam.
"Für mich ist der Begriff eher das Progressive und die Tatsache, dass in der jüdischen Religion zum Beispiel der Gedanke von Tikkun Olam sehr stark ausgeprägt ist, also ein Gedanke, dass wir nur dann gut leben können, wenn wir für ein gutes Leben für andere sorgen, dass wir nur dann mit uns im Reinen sein können, das ist etwas, das, glaube ich schon, prägend ist."
Es sei für ihn jedoch weniger eine theologische oder religiöse Frage, sondern eher eine erinnerungspolitische Aufgabe.
"Inwiefern können wir diesem Land und auch dem progressiven Flügel in dieser politischen Landschaft das zurückgeben, was dieses Land irgendwann vertrieben und vergast hat. Also können wir das überhaupt ersetzen? Nein. Aber können wir anknüpfen an diese Tradition und können wir selbstbewusst als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes jüdischer Herkunft dieses Land neu mit gestalten, damit auch etwas sich nicht wiederholt, was damals möglich war. Das wäre das, was mich antreibt."
In der Heinrich-Böll-Stiftung leitet Sergey Lagodinsky seit 2012 das Referat EU/Nordamerika. Zuvor hat er für eine internationale Anwaltskanzlei gearbeitet und war viele Jahre für das American Jewish Committee tätig. Neben Fragen zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, die Ausgestaltung neuer Bürgerrechte im Zeitalter der Digitalisierung ist die Außenpolitik ein Feld, auf dem er sich politisch bewegt. Den Blick geweitet hat er nicht zuletzt in Harvard, als er sein zweites Studium in Public Administration absolvierte. Lagodinsky beschreibt sich selbst gern als ein Kind der Perestroika-Jahre, als es um die Suche nach Freiräumen innerhalb eines sowjetischen Systems ging. Es ist daneben aber auch seine jüdische Herkunft, die prägend für seine Idee von Politik ist.

Durch Vielfalt Stärke gewinnen

"Ich finde diese kommunitaristischen Ansätze, die gerade im Judentum sichtbar werden, sind etwas, was auch unsere Gesellschaft lernen könnte, sozusagen im Zeitalter des blinden Individualismus – was ja auch die Stärke unserer liberalen Gesellschaft ausmacht. Das wird nur dann funktionieren, wenn wir auch zueinanderfinden. Und wenn wir verstehen, dass ein Teil dieses Individualismus auch eine Zugehörigkeit zum Ganzen bedeutet."
Seine politische Arbeit, so sagt Sergey Lagodinsky, speise sich letztlich aus der Vielzahl seiner biografischen Perspektiven: Als Zuwanderer aus der Sowjetunion, als russischsprachiger Deutscher, als aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde.
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