Grünen-Politiker: Deutsche Afghanistanpolitik von "Halbherzigkeit" geprägt

Winfried Nachtwei im Gespräch mit Katrin Heise · 20.08.2009
Der Verteidigungsexperte der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Winfried Nachtwei, stellt der deutschen Afghanistanpolitik ein gemischtes Zeugnis aus.
Katrin Heise: Nach 15 Jahren im Bundestag verabschiedet sich Winfried Nachtwei aus dem aktiven Politikerleben, er wird dem neuen Parlament nach der Wahl vom 27. September nicht mehr angehören. Bis dahin ist er Verteidigungsexperte bei den Grünen. Er, der aus der Friedensbewegung kam. Sein besonderes Augenmerk liegt auf der deutschen Afghanistanpolitik. Er konnte seinen Parteifreunden das Ja zum Afghanistaneinsatz abtrotzen. 13-mal ist er inzwischen im Land am Hindukusch gewesen, hat es besucht und sich ein Bild der Situation gemacht, eine Situation, die natürlich gerade zur heutigen Präsidentenwahl wieder dramatisch gefährlicher geworden ist. Herr Nachtwei, ich grüße Sie recht herzlich!

Winfried Nachtwei: Schönen guten Tag!

Heise: Die heutige Wahl in Afghanistan, das ist nach 30 Jahren die erste unter afghanischer Führung wieder. Sie befürworten den deutschen Einsatz, Sie sind gegen einen Abzug, Sie üben aber eben auch deutliche Kritik, Sie sprechen von Beschönigung und Halbherzigkeiten. Ist das eigentlich das größte Problem der deutschen Afghanistanpolitik?

Nachtwei: Das ist meiner Meinung nach in der Tat das größte Problem, weil Ausdauer hat man wohl gezeigt, im Unterschied zu den USA am Anfang, die sich dann also auf den verheerenden Irakkrieg gestürzt haben, oder die Briten also auch. Und was auf deutscher Seite gut war, so an sich, die Einstellung zur afghanischen Bevölkerung, von vornherein mit einer Haltung von Respekt an die Leute rangegangen. Das war also eben gut. Aber vor allem in den letzten Jahren zunehmend diese Halbherzigkeit und dann gegenüber der Öffentlichkeit doch überwiegend ein Umgang der Beschönigung mit der sich verschlechternden Situation.

Heise: Sie haben sich mit Ihrer Meinung, mit Ihrer Haltung ja sicherlich auch nicht ganz leicht getan. Haben Sie die Aufgabe, die dort auf die Truppen wartet, unterschätzt?

Nachtwei: Wir haben wohl auch schon 2003/2004, als es so nach Norden ging, gesehen, dass das ein Wandeln auf einem sehr schmalen Grat war, das ja. Aber der Umfang der Aufgabe, das wurde wirklich sehr unterschätzt. Und es zeigt sich also exemplarisch wirklich bei der mageren Unterstützung des Polizeiaufbaus mit bis zu 40 Beamten, mit bis zu zwölf Millionen – inzwischen ist das Finanzvolumen da aufgestockt worden, aber trotzdem noch weit hinter dem Erforderlichen zurück.

Heise: Wie sehr hat eigentlich Sie mit Ihrer friedensbewegten Grundeinstellung – die habe ich ja vorhin schon mal hervorgehoben – die Durchsetzung so eines UN-Militäreinsatzes gebeutelt, also auch innerlich gebeutelt, um da zu einem solchen Ergebnis zu kommen?

Nachtwei: Dieser Konflikt, mit dem hatten wir ja schon bei den Balkankonflikten und -krisen zu tun, und da stellte sich dann der Imperativ Gewaltfreiheit jetzt in einer weiteren Weise, wie wir das vorher uns nicht gedacht hatten in der Friedensbewegung, nämlich was tun, wenn krasse illegale Gewalt geschieht und man soll was zur Eindämmung beitragen. Und da die Erfahrung in den 90er-Jahren, im Rahmen der UN-Prinzipien kann es auch eine Verpflichtung sein, so eine Art von krasser illegaler Gewalt mit Militär einzudämmen. Aber Militär zur Gewalteindämmung, das ist das Entscheidende, der 180-Grad-Unterschied zu traditionellem Militärverständnis: Durchsetzung von eigenen Interessen.

Heise: Das heißt, an der Stelle hatten Sie für sich aber nie das Gefühl, dass Sie so eine 180-Grad-Wendung machen mussten?

Nachtwei: Nein, es war ein Bruch in der eigenen Erfahrung, aber es war weiterhin orientiert an dem Grundsatz: Gewaltverhütung, Gewalteindämmung.

Heise: Im Deutschlandradio Kultur halten wir ein wenig Rückschau auf lange Jahre der politischen Verantwortung. Winfried Nachtwei, verteidigungspolitischer Experte der Grünen, verlässt den Bundestag und ist bei uns zu Gast. Herr Nachtwei, Sie haben eben die Diskussion um den Kosovoeinsatz schon so ein bisschen angesprochen, viele haben darin ja eben den Verrat an grünen Überzeugungen gesehen. Wie schwer ist, wenn Sie das so auch im Nachhinein betrachten, wie schwer ist eigentlich Regierungsbeteiligung?

Nachtwei: Die ist in der Tat nicht dieser bequeme Sessel der Macht, wie es oft dann dargestellt wird, oder dieser Dienstwagen oder so, sondern die Herausforderung ist wirklich, im Hier und Jetzt agieren zu müssen. Und gerade in der internationalen Politik, da kann man nicht etwas auf die lange Bank, also von irgendwelchen aufgeschobenen Reformen schieben, da muss man hier und jetzt springen. Und man hat auch zu tun in der Regierungsverantwortung mit den Folgen des eigenen Tuns und den Folgen des Nichttuns, beides zusammen. Ich vorher in einer Friedensgruppe, diese Dimension hatte man nicht dabei. Da kann man protestieren, da kann man seine vehemente Meinung sagen, und wenn das nicht kommt, na ja. Aber das ist dann eben, Regierungshandeln ist dann grundsätzlich anders.

Heise: Was hat das mit Ihnen gemacht? Das ist ja wirklich krass, der Unterschied.

Nachtwei: Das hat bei mir Folgendes gemacht, und zwar, dass ich versucht habe, mir nicht erst im Nachhinein mit Ausscheiden aus dem Dienst da Gedanken drüber zu machen, sondern sofort. Sofort habe ich also eben meine Überlegungen, Motive, Zielsetzungen, auch Unklarheiten und Unsicherheiten schriftlich niedergelegt, auf die Homepage gestellt, über die E-Mail-Verteiler, sodass es nachvollziehbar wird und dass es auch natürlich dann anders kritisierbar wird. Das ist also das Entscheidende gewesen: transparent machen diese schwierigen Kursänderungen – es waren ja natürlich Kursänderungen.

Heise: Transparent machen, sich damit dann der Kritik aussetzen, Sie können auch Kritik einstecken demnach. Und wenn man sich dann als Verräter beschimpfen lassen muss oder so was?

Nachtwei: Dann trifft das doch immer noch erheblich. Und wenn es dann aus eigenen Reihen dann auch mal kam …

Heise: Vielleicht ja auch mal aus dem Freundeskreis, Familie?

Nachtwei: Familie nicht, aber sonst aus dem Freundeskreis natürlich. Bei nicht wenigen langjährigen Gefährten war ich dann also eben derjenige, der … Die Hoffnung an mich war, Friedenstaube im Verteidigungsausschuss. Und jetzt macht ein solcher so was. Und das ist dann das Schlimmste, das ist das Schlimmste. Aber das ist bei relativ wenigen gewesen auf die Dauer, weil die meisten dann, auch diejenigen, die nicht meiner Auffassung waren, die meine Auffassung falsch fanden, aber doch gesehen haben, dass ich mich nach bestem Wissen und Gewissen dabei orientiert und verhalten habe.

Heise: Also Sie haben keine Freunde verloren?

Nachtwei: Politische Weggefährten ja, doch, einzelne ja.

Heise: Sie werden immer Winni genannt. Wenn man Sie jetzt so reden hört, auch so das Bemühen, das Ringen um Transparenz, um Ehrlichkeit, um Glaubwürdigkeit, hilft da dieser Winni auch so ein bisschen, so dieses Freundliche, so wie man ja auch oft sagt, jemanden, den man duzt, kann man nicht so sehr anschreien?

Nachtwei: Ja, gut, wenn meine Frau mich Winfried nennt, dann weiß ich, es wird schon ernster.

Heise: Also gut, dann … Würden Sie sagen, Sie haben sich als Politiker, jetzt nicht nur in der Regierungsverantwortung, sondern auf dem Weg vom Friedensaktivisten überhaupt in die Politik, verändert?

Nachtwei: Natürlich hat man sich was verändert, man muss aufpassen, inwieweit man das Denken, die Erfahrungen und so weiter der Normalbevölkerung noch wirklich also im Blick hat, weil man sich so viel woanders bewegt. Dann zweitens, ganz wichtig: Die Erfahrungsprozesse, die wir auf der politischen Ebene machen, die sind so schnell, so dynamisch, das noch rüberzubringen, ist sehr schwierig, deshalb war in den ersten Jahren immer mein Grundsatz: Lieber gegebenenfalls eine Veranstaltung im Ortsverein mit 20 Leuten, als nach Texas reisen. Um da also eben noch mitzukriegen, wie ticken wir, kann ich mein Ticken noch rüberbringen?

Heise: Kann man das durchhalten?

Nachtwei: Ja, das geht.

Heise: Mit viel Aufwand?

Nachtwei: Ja, mit viel Aufwand, ist eben ein totaler Beruf und dadurch auch asoziale Züge.

Heise: Und die Dynamik, vielleicht ja auch die asozialen Züge werden jetzt ein bisschen weniger. Wie geht’s denn weiter nach Herbst 2009?

Nachtwei: Genau, ich will die Chance meiner Resozialisierung jetzt freiwillig nutzen, aber ich weiß selbst, dass das, was ich in der Politik gemacht habe, nicht einfach gebunden war jetzt an Mandat und an Funktion, sondern ist mir ein Herzensanliegen. Deshalb werde ich bei Afghanistan weiter dran bleiben. Ich bleibe bei Krisenprävention, zivile Friedensförderung, wo wir relativ viel geschafft haben, aber was weniger Aufmerksamkeit erreicht, und dann versuchen, dieses Ganze reflektieren, in zwei Buchdeckel zu bringen. Es gibt ja schon so wenig Bücher.

Heise: Es gibt ja schon so wenig Bücher, aber da warten wir auf jeden Fall drauf. Würden Sie denn sagen, irgendwas, ein bestimmter Punkt, das war ganz besonders, da hat sich dieser ganze lange Weg doch wirklich gelohnt, und ein anderer Punkt, das hätte ich doch anders machen sollen?

Nachtwei: Es hat sich gelohnt, zum Beispiel Koalitionsverhandlungen 2002, wo ich reingebracht habe in den Koalitionsvertrag, die Bundesregierung stellt einen Aktionsplan Krisenprävention auf. Das ist ein Unterfangen geworden, was es international so nicht gegeben hat. Das war ein richtiger Schub, da muss man dran bleiben. Hat sich toll gelohnt. Oder Holocaust-Überlebende, Osteuropa, habe ich nicht unwesentlich zu beigetragen, dass es dann doch eine Entschädigung gegeben hat. Was ich falsch gemacht habe oder fragwürdig? Nun, durch meine Intensität in bestimmten Bereichen habe ich schlichtweg auch die politische Breite was vernachlässigt, also zum Beispiel, was bei den ganzen Reformen um Hartz IV gelaufen ist, um Steuerreformen unter Rot-Grün, das habe ich dabei gleichzeitig was vernachlässigt.

Heise: Vielen Dank, Winfried Nachtwei! Eine kleine Rückschau auf viele Jahre im politischen Leben und eine Vorschau auf viele politische Jahre weiterhin. Ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch und wünsche Ihnen alles Gute!

Nachtwei: Danke!