Gründung der Tschechoslowakei vor 100 Jahren

Tschechen und Slowaken als Gewinner des Ersten Weltkriegs

Eine Menschenmenge hat sich zur Unabhängigkeit der Tschechoslowakei auf dem Wenzelsplatz in Prag versammelt.
Menschenmenge auf dem Wenzelsplatz in Prag: Im Herbst 1918 fiel noch vor Kriegsende die Entscheidung über die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei. © picture-alliance/ dpa / CTK
Von Peter Lange · 24.10.2018
Tschechien und die Slowakei setzen zum großen Erinnern an: Der 28. Oktober 1918 gilt als Tag der Gründung einer unabhängigen Tschechoslowakei. Ein Erfolgsmodell, das zwar kurzlebig war, auf das heute aber viele etwas wehmütig zurückblicken.
Freitagabend um acht läuft im tschechischen Fernsehen zur Zeit die Familienserie "Erste Republik" - ein nostalgischer und etwas verklärender Blick in die schicke und kultivierte Prager Welt der 1920er-Jahre, in die erste Republik, in die Tschechoslowakei, an deren Gründung vor 100 Jahren in diesen Tagen in Tschechien und der Slowakei erinnert wird.
"Unser Staat wurde errichtet, weil unser Staatsrecht von den Allierten anerkannt wurde und weil sich die Nation zuhause und im Ausland unseren Gegnern in Einigkeit entgegengestellt hat", sagte Tomas Garrigue Masaryk, der Gründungspräsident, am 28. Oktober 1928 zum zehnjährigen Bestehen der Tschechoslowakei. Ein Gelehrter, Philosoph und Soziologe, Humanist und gläubiger Katholik - Jahrgang 1850.

Ex-Abgeordneter im österreichischen Reichsrat als Präsident

"Masaryk war ein Produkt der Krise der Moderne des 19. Jahrhunderts", sagt der Historiker Ota Konrad: "Er hat viel darüber geschrieben. Seine Habilitationsschrift behandelte die Problematik des Selbstmordes, als eines der negativen Phänomene der modernen Massengesellschaft."
Bis 1914 ist Masaryk Abgeordneter im österreichischen Reichsrat. Mit Beginn des Ersten Weltkrieg geht er ins Exil und betreibt von da an die Loslösung Böhmens und Mährens vom Habsburger Kaiserreich.
Ota Konrad: "Der Grund war, seine Gespräche mit verschiedenen Politikern, Kollegen und Bekannten, und er ist dazu gekommen, dass im Falle des Sieges der Zentralmächte zu einer starken Germanisierung der böhmischen Länder kommt."
Masaryk, bei Kriegsbeginn immerhin schon 64, reist kreuz und quer durch Europa und wirbt für einen unabhängigen Staat der Tschechen. Der Mann aus dem 19. Jahrhundert hat ein auch nach heutigen Maßstäben sehr modernes Verständnis von Lobby-Arbeit:
"Ich hatte meine Grundsätze über Propaganda und glaube, dass sie richtig waren: Die Deutschen nicht beschimpfen, den Feind nicht unterschätzen, nichts entstellen und vergrößern; nichts ins Leere versprechen und nicht als Bittsteller auftreten; die Tatsachen sprechen lassen und an ihnen beweisen: Das ist euer Interesse und daher auch eure Pflicht."
Ein Schwarz-Weiß-Porträt zeigt Tomas Garrigue Masaryk
Tomas Garrigue Masaryk (1850-1937) verfügte über ein modernes Verständnis von Lobby-Arbeit.© picture alliance / Everett Collection
Masaryk gelingt es, gleichgerichtete Interessen zu bündeln: Die von Frankreich und England an einem zuverlässigen Verbündeten in Mitteleuropa nach dem Zerfall des Habsburgerreichs. Die von Tschechen und Slowaken, die sich dem Assimilierungsdruck der Ungarn entziehen wollen.
Dusan Kovac von der Slowakischen Akademie der Wissenschaften:
"Ungarische Regierungen taten alles nur Mögliche, damit die Slowaken kein Volk wurden, sondern nur eine ethnische Gruppe blieben."

Start einer stabilen und prosperierenden Demokratie

Tomas Masaryk, Edvard Benes und der slowakische General Milan Stefanik sind die Schlüsselfiguren, die die Gründung einer Exilarmee und eines gemeinsamen Staats vorantreiben. Am 18. Oktober 1918 kann Masaryk in Washington die Gründung der Tschechoslowakei proklamieren, anerkannt von Frankreich, Großbritannien und den USA. Zehn Tage später akzeptiert Österreich die Bedingungen von US-Präsident Wilson für einen Waffenstillstand. Eine davon: Die Abtrennung von Böhmen, Mähren, der Slowakei und einem Teil von Schlesien – das Gebiet der Tschechoslowakei. Der 28. Oktober gilt deshalb als Gründungstag und ist bis heute Nationalfeiertag.
Tomas Garrigue Masaryk: "Wir sind und wir bleiben den alliierten Nationen dankbar für ihre Hilfe und Freundschaft, die sich auch nach dem Krieg bewiesen haben."
Die Tschechoslowakei wird überraschend schnell zu einer stabilen und prosperierenden Demokratie. Ein Problem bleibt allerdings ungelöst: Der Status und die Stellung der deutschen Minderheit. Nur ein Teil bringt sich in dem neuen Staat ein. Der andere schaut nach Deutschland und Österreich.
"Es gab eine ganz klare, banale Vorstellung", erklärt der Historiker Ota Konrad. "Okay, dieser Staat ist der Staat der Tschechoslowaken und wir werden den Minderheiten viele Rechte einräumen. Aber es gab keine klare Politik, was weiter, wenn die Minderheiten damit nicht zufrieden sind - und wenn die etwas anderes wollten."

Masaryk - Vaterfigur mit einigender Wirkung

Eine Hypothek, die der Tschechoslowakei 1938 zum Verhängnis wird. Tomas Garrigue Masaryk hat das nicht mehr erlebt. Er ist 1937 hochbetagt gestorben. Heute gilt er als einer der wichtigsten Tschechen, Vaterfigur, Leitbild, Denkmal, ein Symbol, allerdings – wie Ota Konrad meint, inhaltlich weitgehend entleert:
"Wenn Sie die Äußerungen der tschechischen Politiker zu Masaryk verfolgen, dann sehen sie, dass fast alle sich mit Masaryk identifizieren können, von dem Premierminister bis zum heutigen Präsident bis zum Vorsitzenden dieser rechtsextremen Partei."
So entfalten denn Masaryk und die Erste Republik in dieser gespaltenen tschechischen Gesellschaft heute eine einigende Wirkung, die wenigstens bis zum Ende der Gedenkfeiern am Sonntag anhalten dürfte.
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