Groundhopping

Jeder Platz zählt

Groundhopper Michael Höller (Mitte) mit zwei Fußballfans im iranischen Ahvaz
Groundhopper Michael Höller (Mitte) mit zwei Fußballfans im iranischen Ahvaz © Michael Höller
Von Anja Schrum · 28.02.2016
Groundhopper - das sind die etwas anderen Fußballverrückten. Für sie zählt nicht die Mannschaft, sondern das Stadion. Wo normale Reisende Altstädte oder Kirchen anschauen, besuchen Groundhopper Fußballspiele und -plätze - und davon möglichst viele, gern auch schräge, an möglichst exotischen Orten.
"Wir gehen jetzt zum Testspiel vom SV Norden-Nordwest, sehr alter Berliner Fußballverein, der auf dem ältesten Vereinsfußballplatz Berlins spielt."
Johannes Brattke eilt die Behmstraße im Stadtteil Wedding entlang. Unter seinen Füßen knirscht der Splitt. Der schlaksige 29-Jährige hat die schwarze Wollmütze tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den Hosentaschen vergraben:
"Ich gehe mal davon aus, dass wir gleich so die einzigen sein werden, die da an einem Wintersonntag Fußball schauen wollen."
Zumal ein Spiel der Kreisliga A. Um 14 Uhr ist Anpfiff zwischen dem SV Norden-Nordwest und Tasmania Berlin II. Hinter Johannes schlendern seine Freundin Anna-Karen und sein Kumpel Patrick.
Patrick: "Wenn Johannes jetzt in Berlin Fußball schauen geht, bin ich oft dabei und auch ein paar Auslandstrips mach ich immer mal mit. Jetzt im April geht’s wieder nach Wien für ein Wochenende."
Die drei sind sogenannte Groundhopper. Übersetzt bedeutet das: Sie hüpfen von Fußballplatz zu Fußballplatz, von Stadion zu Stadion. Viele Wochenenden sind sie gemeinsam unterwegs.
"Wir müssen hier rüber – aber sieht ziemlich mau aus…"
Die drei überqueren die Behmstraße. Hinter einem Metallzaun und ein paar kahlen Bäumen schimmert es weiß-grün: Kunstrasen unter Schnee. Johannes rüttelt am Tor:
"Dann fahren wir jetzt zur Swinemünder Straße oder Stralsunder Straße, genau, da ist 14 Uhr ein Spiel, BSV Hürriyet-Burgund, ist zwar nicht so ein toller Platz – aber besser als gar nichts."
Johannes zuckt mit den Schultern. Hopper-Pech. Wie auch am Vortag schon. Eigentlich wollte die selbsternannte "Reisegruppe Fußballsport" ein Drittliga-Spiel in Chemnitz besuchen. Doch die Partie wurde wetterbedingt abgesagt. Johannes zieht sein Smartphone aus der Jackentasche. Der Veranstaltungs-Kaufmann sucht im Gehen nach dem Online-Spielplan. Blickt dann hinüber zu Patrick und Anna-Karen:
Johannes: "Hürriyet, oder? Wo es die leckere Brause gab…"
Patrick nickt, er erinnert sich: "Zu Hürriyet Burgund an der Voltastraße… Ich war da das letzte Mal vor zwei, drei Jahren mit dabei…" - Johannes: "Man erinnert sich ja immer so an Besonderheiten am Fußballplatz und da gab es z.B. eine sehr gute Brause… irgendwie türkische Limonade… die war auf jeden Fall an dem Tag das Highlight."
Die drei Fußball-Freunde eilen zurück zum U-Bahnhof. Johannes erzählt: Viele Fußball-Süchtige weichen im Winter nach England aus. Dem Geburtsland des Groundhoppings. Auch Johannes hat schon solche Kurztrips unternommen. Mit dem Billigflieger ab Berlin-Schönefeld zum Beispiel
Und als wir dann am Flughafen waren, dann war da so ein bisschen Hopper-Klassentreffen. Da waren dann Groundhopper von den verschiedensten Blogs und im Prinzip sind es dann 20 Leute gewesen, die mit diesem Flieger nach London sind, dann zu zig verschiedenen Spielen gefahren, und anschließend hat man sich wieder am Flughafen getroffen. Und dann sind wir in den ersten Flieger morgens zurück gestiegen. Und dann waren wir ungefähr 18 Stunden oder sowas unterwegs für ein Fußballspiel in England."
Ob Kreisliga oder Premier League – Johannes dokumentiert jeden Stadionbesuch auf seinem Blog "Reisegruppe Fußballsport". Hoppen und Bloggen – das gehört für viele Groundhopper zusammen.
Johannes: "Wer es mitschreibt, der hat dann auch so einen gewissen Anspruch, natürlich, möglichst alle Details zu haben usw. Und da geht’s dann auch relativ schnell, dass du das Gefühl hast, okay, ich möchte noch mehr sehen. Ich möchte auch mal einen Platz, den ich noch nicht gesehen habe."
Und so kommt ein Fußball-Platz, ein Stadion zum anderen...
Johannes: "Also, ich schau im Jahr sowas zwischen 120, 150 Spielen… Was jetzt auch im Vergleich zu anderen Hoppern nicht viel ist. Also man muss das immer in Relation sehen."
Einzelne "Ground-Süchtige" bringen es auf über 1.000 oder gar 2.000 Fußball-Plätze oder Stadien. Wobei jeder besuchte "Ground" nur einmal gezählt werden darf. Doch wann ein "Ground" als "gemacht" gilt, ist nicht einheitlich definiert.
Johannes: "Darf ich das schon als Groundhopping definieren, wenn ich arbeitsmäßig in Istanbul bin und dann noch zwei Tage ranhänge, um Fußball zu gucken, oder ist Groundhopping eigentlich erst, wenn ich nach Istanbul fahre, um Fußball zu gucken? So…"
Für manche zählen "Grounds" in der Heimatstadt nicht.
Noch sind gut 20 Minuten Zeit bis zum Anpfiff. Von einem Stadion zum nächsten zu hoppen – ein typisches Wochenend-Vergnügen, sagt Johannes:
"Da können es auch schon mal vier Spiele an einem Tag werden. Gerade in Berlin ist es Gold wert. Du kannst halt um 9 ein A-Jugend-Spiel gucken, 11.30, 12 Uhr das nächste Spiel, dann hast du vielleicht 15 Uhr noch eins oder 17, 18 Uhr unter Flutlicht. Manchmal braucht man das."
Patrick verdreht ein wenig die Augen unter seiner blauen Wollmütze, grinst…
"Also, so B-Jugend-Spiele bin ich dann schon selten dabei und je unterklassiger, also Kreisliga C, Kreisstaffel C wird’s dann auch schon bei mir so fragwürdig, ob man sich das noch anschauen muss oder will."
Die drei Groundhopper haben den U-Bahnhof Bernauer Straße verlassen, biegen links in eine ruhige Seitenstraße ein. Gegenüber eine riesige Baugrube, daneben der Fußball-Platz – aber kein Spieler weit und breit…
"Dann müssen wir jetzt nochmal das Internet konsultieren. Ann-Karen und Patrick: Dieser Winter, dieser Winter…Scheiß Winter-Pause…"
Wieder werden die Smartphones gezückt, beratschlagt…
"Na, dann fahren wir jetzt Bau-Union, oder? AK: Also, ich bin jetzt Fußball-heiß, ich will jetzt Fußball gucken. Johannes: Ich ja auch, seit Wochen schon… Na dann machen wir das…"
Rund 500 Kilometer weiter westlich, in Bergisch-Gladbach, sitzt Michael Höller vor seinem Computer. Sein vierjähriger Sohn Martin versucht auf seinen Schoß zu krabbeln:
"Ich will auch bißchen... Höller: Nimm mal ein anderes Plätzchen, Martin. Wir sind auch gleich durch, wir müssen gleich los... Musik... Was ist das?... Musik…"
Auf dem Bildschirm erscheint ein Spielmannszug vor einer altmodischen Tribüne. Ein Fußballstadion in Belgien, das es so nicht mehr gibt:
Höller: "Kapelle zum Abschied. Martin: Wo gehen die hin alle? Höller: Die machen da Musik. Die feiern, das letzte Mal in dem Stadion wird gespielt…"
Das belgische Fußball-Stadion - ein sog. "Lost Ground". Ein Stadion, das abgerissen wurde. Auch solche Plätze sammelt Michael Höller. Der Groundhopper klickt ein paar Bilder hoch, sie zeigen das ehemalige Lyra-Stadion, über 100 Jahre alt, inzwischen ebenfalls abgerissen…
"Das war auch eins von diesen typischen alten belgischen Stadien, die aus Backstein noch gebaut worden sind, wo die Terrassen, der Boden aus Lehm festgestampft war, was wirklich alt und zerfallen – und ich sag mal, fast schon schrecklich aussah, aber es hatte eine gewisse Atmosphäre und jetzt irgendwie dann da hinzufahren mit einer gewissen Wehmut, ach das Schmuckstückchen wird jetzt abgerissen und wahrscheinlich ersetzt durch einen – ja - seelenlosen Neubau. Ja, das war schon sehr traurig."
Höllers blickt wandert vom Bildschirm nach oben. Über dem Computer klemmt ein Buchungsbeleg. Für einen Kurz-Trip nach London, ein Geschenk für seine Tochter. Natürlich verbunden mit einem Fußballspiel. Doch davon weiß sie noch nichts:
"Ich versuche sie dann zu überreden, dass es eine gute Idee ist, vielleicht zwei Stündchen davon zu opfern und sich in irgendeinem Stadion einzufinden. Ich vermute mal, sie wird nicht sehr begeistert sein, aber mal schauen. Da muss ich noch ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten…"
Michael Höller schmunzelt. Er war schon Groundhopper, da gab es den Begriff noch gar nicht. Irgendwann Ende der 80er Jahre hat es angefangen. Erst mit dem Zug nach Barcelona ins Estadio Camp Nou, dann weiter nach Glasgow zu einem Bayern-Spiel. Knapp 30 Jahre und rund 436 Fußballstadien später bedecken Trikots, Fahnen, Tickets, Fotos, Autogrammkarten, Wimpel und Collagen Wände, Türen und sogar die Decke in seinem winzigen Fußball-Reich im Durchgang hinter der Wohnküche.
Aufgrund des geringen Platzes ist vieles im Keller verstaut und im Keller lagern dann auch 15,16 Ordner mit Eintrittskarten und den Spielberichten dazu aus den Zeitungen und ja, ab und zu blättere ich doch schon mal dadurch und erinnere mich an das eine oder andere Spielchen.
Von der Decke baumeln Fahnen von Raza Casablanca oder Foolad Khouzestan aus dem Iran. Der 45jährige schiebt ein paar Zettel an der Wand beiseite, deutet auf eine Landkarte voller Stecknadeln - seine geographische Hopper-Bilanz …
"Also, das westlichste, die Stadien liegen auf den Azoren, also schon ziemlich weit im Atlantik. Südlich geht es bis nach Katar … raschel… Das liegt irgendwo… ja, hier ist es noch, nee, es ist nicht mehr drauf, passt schon gar nicht mehr auf die Karte, also Katar ist das Südlichste. Das am weiten nördlichste ist da oben, Rejkjavik auf Island und inzwischen das östlichste… Das ist so ein kleiner Kunstrasenplatz in Taschkent in Usbekistan und ja, zwischen diesen vier Extremen liegen dann so um die 430, 436 Stadien, die ich so im Laufe der Zeit gesammelt hab."
Rund 560.000 Zug-und Flugkilometer hat der Fußballfan bislang zurückgelegt. Dabei 54 Länderpunkte gemacht. Als Fußball-Experte mag er dennoch nicht gelten:
"Ich sage auch heute noch, nach über 800 gesehenen Spielen: Ich hab vom Fußball keine Ahnung! – Abseits kenne ich noch, das ist schon klar. Aber mit Vorstopper oder eher Libero und der müsste doch eher links hinten und der lieber vorne, Mittelfeld – das ist schon zu weit für mich. Ich will die 22 Spieler sehen, ich will sehen, dass die kämpfen, dass die sich anstrengen, reinknien, Tore wäre nett – aber auf diese technischen Finessen – hab ich auch keine Ahnung von."
Den Groundhopper interessiert eben nicht nur das Geschehen auf dem Platz, sondern vor allem auch das Drumherum:
"Ich möchte die ganze Atmosphäre da einfach wahrnehmen. Wie die Fans sind, ja, manchmal gibt’s ja Fankurven, Fanblöcke, Ultras auch, die Stimmung machen. Dann guck ich mir das halt an oder auch ganz normale Rentner, die da zusammenstehen und über das Spiel mosern, ist genauso witzig wie wenn große Zuschauermassen da supporten…"
Höllers Frau Elena sitzt ein paar Meter weiter auf der Couch im offenen Wohnbereich und schüttelt lachend den Kopf:

"Fußball, Fußball... Wenn man in den Urlaub fährt, dann plant man das so, also nicht ich, der Mann, wirklich großgeschrieben, wo man auch Spiele gucken kann."
Vor rund zehn Jahren haben sich die beiden kennengelernt. Die gebürtige Weißrussin studierte damals in Berlin:
"Und er kam mich dann dort besuchen. Und wo haben wir uns mal schön kennengelernt und die Zeit verbracht, am ersten Date? Im Stadion, wo noch 30 Rentner saßen... Höller aus Hintergrund: Köpenick, nicht?... Sie: Ja, okay, das war Köpenick... Irgendwie ein Spielplatz mit 30 Rentnern und wir... Okay – nachher gabs auch Restaurant-Besuch, muss man zugeben – lacht – aber erst gabs Stadion, lacht..."
Und nicht nur eines. Ein paar Jahre führten die beiden eine Fernbeziehung, zwischen Bergisch-Gladbach und Berlin:

"Und als er dann am Wochenende da war, dann haben wir Stadien besucht, die kleinen, die ganz kleinen (lacht), aber auch Olympiastadion. Höller aus dem Hintergrund: Ich glaube, ich hab da ungefähr 30 Stadien, bei jedem Besuch bei der Freundin, da musste ich halt gucken, dass ich da ein Spiel da einschiebe – oder auch zwei... Da hat schon die Beziehung – ja – wurde die Belastung schon ein bißchen probiert... sie lacht... hat aber geklappt... er lacht…"
Michael Höller ist nicht nur Groundhopper, sondern auch Bayern München-Fan. 60 Mal war er im Münchner Olympiastadion. Eine Leidenschaft, die er an seinen Sohn weitergeben möchte. Bislang vergeblich…
Martin: "Bayern München – FC Köln... Sie: Es reicht jetzt, Martin... Sie: Ärgert er den Papa so ganz gerne mit FC Köln... Martin: Weil ich auch FC Köln mag, nicht Bayern München. Ich muss ihn mal zum Bayern München-Spiel mitnehmen, vielleicht ist er dann richtig auf Kurs..."

Michael Höller blickt auf die Uhr, nickt. Zeit aufzubrechen…
Am Bahnhof Berlin-Alexander-Platz steigen Johannes, Anna-Karen und Patrick in die S-Bahn.
"Wir fahren jetzt nach Lichtenberg zum SV Bau-Union. Ist auch deshalb gut, weil ich da noch nicht gewesen bin. Patrick: Ich auch nicht. Ann-Karen: Ich auch nicht."
Damit würden die drei von der "Reisegruppe Fußballsport" einen neuen Ground machen. Wie sie sind jedes Wochenende hunderte deutscher Groundhopper unterwegs. Das Sammeln von Fußballstadien ist ein zunehmend beliebtes Hobby, glaubt Johannes:

"Zum einen natürlich die bessere Informationslage, du kriegst viel besser die Infos, wer wann wie wo spielt, dadurch ist es auch einfacher das zu tun. Und ein ganz großer Punkt sind die Billigflieger, ganz klar. Also mal schnell nach Israel oder nach Zypern zu fliegen kostet 100 Euro hin und zurück und das ist schon krass. Ich glaub schon, dass es dadurch auch mehr geworden ist, weil es billiger ist zu reisen, kannst es auch besser machen, machst es auch lieber…"
Hinzu kommt: Das Internet als Selbstdarstellungs-Plattform. Mittlerweile gibt es die verrücktesten Hopper-Blogs.
"Also, ob das nun ein Groundhopping-Blogg ist, der sich damit befasst, die Stadion-Wurst zu bewerten, oder das Stadion-Bier oder – letztens hab ich gelesen, ich weiß nicht, wie ernst es wirklich war, aber ein Interview von einem Groundhopping-Blog mit einem Blog von anderen Leuten, die wiederum in jedem Stadion aufs Klo gehen, ja, es gibt die verrücktesten Vorlieben…"
Hinter der Station "Ostbahnhof" deutet Johannes aus dem S-Bahn-Fenster:

"Wir fahren gleich am "Fußballhimmel" vorbei."
Der 29-Jährige zeigt auf ein riesiges, blaues Großmarkt-Gebäude.
"Da spielt der SV Blau-Weiß Friedrichshain. Sehr sympathische Truppe, auf dem vielleicht höchsten Platz Berlins…"
In 12 Meter Höhe. Auf dem Dach des Großmarkts. Ein "Fußballhimmel" mit Fifa-Norm. Und mit einer super Aussicht, sagt Johannes. Es muss keineswegs immer erste oder zweite Liga sein. Im Gegenteil: Die Groundhopper haben ein Faible für Abseitiges und Abstruses.
"Intern machen wir immer, wer den schlechtesten Stadion-Kaffee Berlins hat – da streiten sich einige Vereine drum. Anna-Karen: Da liegen auch viele sehr weit vorne… lacht… Also wirklich guten Kaffee, wirklich guten Kaffee hab ich auch noch nicht getrunken aufm Fußballplatz…"
Die drei Groundhopper steuern das Stadion des SV Bau-Union Lichtenberg an. Es liegt keine 100 Meter vom S-Bahnhof entfernt zwischen mausgrauen Plattenbauten. Davor ein Kleinfeld, auf dem ein paar Freizeitspieler kicken. Johannes stutzt - blickt skeptisch:

"Das Großfeld ist dahinter und das ist schneeweiß, d.h. ich glaube, wir haben zum dritten Mal heute kein Glück… Aber lass uns trotzdem mal hingehen, mal schauen…"
Und wieder: Kein Fußballer weit und breit. Die drei Groundhopper sind enttäuscht.
Denn ohne Spiel zählt der Ground nicht. Johannes schüttelt den Kopf. Die drei haben für heute genug. Beschließen, abzubrechen.
"Nach drei Wochenenden immer noch kein Spiel im neuen Jahr gesehen, das nervt bisschen…"
500 Kilometer weiter westlich ist der Groundhopper Michael Höller guter Dinge:
"Bis Hauptbahnhof, dann im Regionalzug nach Solingen und weiter nach Remscheid…"
Köln – Solingen – Remscheid. Michael Höller faltet den Fahrplan zusammen. Zwei Mal noch umsteigen. Um 14.30 dann Anpfiff im Röntgen-Stadion in Remscheid. Ein ganz normaler Sonntag für den Groundhopper aus Bergisch-Gladbach:
"Für mich ist halt undenkbar, dass ich jede zweite Woche immer wieder in das gleiche Stadion laufe und immer wieder das gleiche Ritual, die gleiche Stadionwurst, die gleichen Gesänge, selbst wenn es Bayern München ist – das soll schon was heißen! – dem kann ich nicht viel abgewinnen, also da muss ich schon mehr Abwechslung haben und das bringt das Groundhopping auf jeden Fall mit sich."
Viel Abwechslung und weite Reisen - Höller hat über einige seiner Hopping-Touren ein Buch geschrieben. "Khouzestan ist wie Brasilien – Unterwegs zu neuen Grounds im Nahen Osten", heißt es. Zuletzt war er in Usbekistan, mit einem Abstecher nach Kasachstan.
"Nachdem ich jetzt im Iran gewesen bin und in der Türkei, habe ich mir gedacht, es wäre ein lohnenswertes Ziel, sich nach Osten vorzuarbeiten, also irgendwann soll es mal über Indien, China so Richtung Japan gehen und dabei ist Usbekistan natürlich ein wichtiger Schritt, weil einmal groß und auch touristisch sehr interessant und Stadien hat es auch. Deshalb war es ein Grund, das einzureihen, in mehreren Etappen Richtung Osten mich vorzuhoppen."
Und über den Stadion-Besuch Orte und Menschen abseits der Touristenpfade kennenzulernen. Höller geht meist allein auf Tour. Weil er dann keine Kompromisse machen muss und er mehr erlebt. Iranische Polizisten zum Beispiel, die auf ihren Motorrädern lossausen, um ihm ein Stadionticket zu besorgen.
Ankunft in Remscheid. Michael Höller schaut sich kurz um. Geht dann eine Seitenstraße hinab. Der Regen prasselt immer stärker. Höller zieht die Kapuze tief ins Gesicht, schnürt den rot-weißen Schal enger.

"Es gibt dann schon mal so Momente, wo man an seinem Hobby und sich selber zweifelt… Man braucht eine gewisse Leidensfähigkeit beim Reisen auch, um das so durchzuziehen, dass man auch den Ground machen kann."

Einen guten Kilometer geht es durch Regen und Kälte bis rechter Hand der Stadionzaun auftaucht.
"Aber mein Bauchgefühl sagt mir jetzt, es ist ein bisschen zu leer… lacht… es gibt keinen Grund, aber ich bin am Zweifeln, ehrlich gesagt, ob wir heute hier ein Spiel sehen werden… ja, ich schlag vor, wir laufen einmal hier um das Stadion rum…"
Höller zieht eine kleine Digitalkamera aus der Innentasche seiner Jacke…
"Dann mach ich hier ein paar Bilder… Aah, da bewegt sich einer, mein Blutdruck geht schon runter… lacht… Wenn einer im Trainingsanzug über den Platz läuft, das sieht schon nach behäbigen Aufwärmtraining aus…Ja, ich glaube, ich bin erleichtert (lacht), wir werden gleich doch ein Spiel sehen…"
Erst aber wird fotografiert. Der Groundhopper knipst ein beschmiertes und mit Aufklebern übersätes Kassen-Häuschen. Und ein moosbewachsenes Hinweisschild.
"Da ich ja weiß, dass das Stadion abgerissen wird, ist alles interessant, Kassenbereich, Eingang, die schon betagte – das schon ziemlich verhunzte Schild hiervorne… "
Junge leise: "Herzlich Willkommen im Röntgenstadion…"

Ein vielleicht 12jähriger im blauen Remscheid-Trikot begrüßt die spärlich eintrudelnden Besucher. Eingang "Nordkurve" steht neben dem Tor.
Michael Höller schiebt ein paar Euro durch das grüne Kassenfenster. Die Eintrittskarte, die der Groundhopper dafür erhält, verstaut er penibel in seiner Geldbörse. Hinter der Kasse stehen ein paar Fans und rauchen.
Höller: "Aber das ist doch so, dass hier abgerissen wird, oder? Typ: Ja, im Sommer. Höller: Wo spielt ihr dann? Höller: Stadion, welches? Na, Stadion bei dir unten, wie heißt das? Dritter: Rhein-Stadion. Höller: Rhein-Stadion…"
Michael Höller kauft Kaffee. Fotografiert die blaue Thermoskanne mit dem FC Remscheid-Aufkleber. Dann stapft er mit dem dampfenden Becher über bröselnde Betonstufen Richtung Tribüne...
"Kann man sich schwer vorstellen, dass hier mal 10.000 Leute gestanden haben und total geile Atmosphäre war… "
Punkt 14.30 Uhr wird die Partie gegen die Spielvereinigung Sterkrade angepfiffen. Gut 30 Remscheid-Fans hocken auf den Holzbänken der Tribüne. Jeder scheint hier seinen Stammplatz zu haben.
"Das Geschrei von den Leuten, die Atmosphäre, das finde ich einfach schön, entspannend. Das ist wirklich so, dass ich da manchmal abdrifte mit den Gedanken, beim Fußball schon bin, aber vielleicht nicht gerade beim Spiel bin."
Sondern vielleicht bei der nächsten Hopper-Reise. Höllers Ziel: Mindestens ein Stadion in jedem europäischen Fußball-Verband besucht zu haben. Bislang hat er 54 Länderpunkte. Noch fehlen etwa Armenien, die Faröer Inseln oder Montegnegro. Dorthin will er im März reisen...
Der Groundhopper lässt den Blick schweifen. Über die Tribüne auf der Gegengerade, auf der vielleicht 15 Leute sitzen. Über die Stehränge, auf denen das Gras sprießt. Und übers Spielfeld, auf dem bei jedem Schuss das Regenwasser nur so spritzt. Und die Spieler schon nach kurzer Zeit völlig durchnässt sind.
"Das hat man nicht alles mehr im Kopf, gerade, wenn man keine Fotos gemacht hat. Aber deswegen bin ich ja heute hier, um bleibende Erinnerungen mitzunehmen."
An das Röntgen-Stadion in Remscheid. Das, auch wenn es abgerissen wird, weiter lebt – auf Michael Höllers Groundhopping-Blog.
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