Groteske Überzeichnung des südamerikanischen Alltags

08.11.2006
1982 bekam er den Nobelpreis für Literatur, der Kolumbianer Gabriel García Márquez, der "Dichter der Unterdrückten", wie er von vielen Kollegen und Kritikern genannt wurde. Neben seinem literarischen und journalistischen Engagement für die Schwachen in der Gesellschaft Südamerikas ist ein zweites Charakteristikum von Márquez' Schreiben seine unversiegbare Erfindungsgabe und seine überbordende Phantasie. Einen "Vulkan, der Träume ausspuckt" hat ihn einmal sein Kollege Pablo Neruda genannt. Jetzt ist in der Reihe "Fischer Schatzinsel" ein Band mit Erzählungen für Jugendliche erschienen.
Das ist keinesfalls ein "Márquez light", den der Fischer Verlag da auf den Markt gebracht hat. Denn der Erzählungsband "Das Licht ist wie das Wasser" ist nicht eigens für Jugendliche geschrieben, sondern enthält eine Auswahl von elf Geschichten aus drei der vier großen Erzählungsbände des Nobelpreisträgers. Geschichten, die vom Alltag in Südamerika oder in Spanien erzählen und zugleich fast alle einen phantastischen Einschlag haben. Erzählungen über Leben und Tod, einen Engel und ein Gespensterschiff, über Alte und Junge.

Die erste Erzählung "An einem dieser Tage" ist als "Teaser" relativ kurz. Es geht um den Besuch des dicken, militärisch-zackigen Bürgermeisters beim Zahnarzt. Er, an sich der Schwache, lässt das Stadtoberhaupt beim Zahnziehen ohne Betäubung seine Überlegenheit spüren, doch der Gequälte verzieht keine Mine. Da wird auf nur fünf Seiten ein kleines psychologisches Duell zwischen zwei sehr ungleichen Gegnern inszeniert. Ein Alltagsdrama auf engstem Raum, das auch für die Auseinandersetzung zwischen der politischen Macht und den Intellektuellen steht.

Ebenfalls aus dem Erzählungsband "Das Leichenbegräbnis der Großen Mama" stammt die gleichnamige Geschichte. Voller grotesker Übertreibungen erzählt sie vom Tod und von der Beerdigung einer alten Großgrundbesitzerin. Im Verlauf der Handlung wächst die alte Dame zur mythischen Mutterfigur, zur Heiligen und Präsidentin, zum Symbol für Weiblichkeit, Macht und Vergänglichkeit. Beeindruckend ist der phantastische Einfallsreichtum, die Wortgewalt und die pompös-bunte Ausstaffierung des Geschehens.

Protagonisten der meisten Texte sind Erwachsene, in einigen sogar ganz alte Menschen wie die sterbende Große Mama, der gestrandete alte Engel oder Maria dos Prazeres, eine ehemalige Hure mit Hündchen.

Kinder stehen im Mittelpunkt der Erzählung "Dienstagmittag" - eine Mutter und ihre kleine Tochter besuchen das Grab des beim Diebstahl erschossenen Sohnes - und in "Der glückliche Sommer der Frau Forbes". Diese Geschichte - die einzige in der Ich-Form - beschreibt aus der Sicht eines Jungen einen glücklich-unbeschwerten Familienaufenthalt auf einer italienischen Insel, der jäh beendet wird durch das Eintreffen einer deutschen Gouvernante. Von heute auf morgen regelt die ebenso eiserne wie ältliche Erzieherin das Leben der Kinder neu, verdirbt ihnen alle Freuden, legt ihnen unnötige Pflichten auf und peinigt sie so sehr, dass diese sogar ihre Ermordung planen. Das Ende ist ebenso merkwürdig wie makaber.

Gabriel García Márquez' Erzählungen sind voller detailliert gezeichneter erstaunlicher Charaktere, verrückter Figuren und eigensinniger Typen. Was diese erleben, ist manchmal alltäglich, viel häufiger aber phantastisch, wunderbar oder absurd. Reales und Surreales mischen sich wie Ernst und Witz, Tragisches und Komisches. Und alle Geschichten faszinieren durch ihre Atmosphäre, durch drückende Schwüle oder verträumte Heiterkeit, Gewalt oder Geheimnis.

Erstaunlich ist allerdings, dass der Fischer Verlag diesen Erzählungsband für Jugendliche ab 12 Jahren empfiehlt. Márquez' absurde Einfälle, seine Sprachmächtigkeit, (eine zehnseitige Erzählung besteht aus einem einzigen Satz!), die Hintergründigkeit vieler Erzählungen bei gleichzeitiger Handlungsarmut, auch das oft alte Personal überfordern Kinder und sprechen eher Erwachsene an.

Was geübte Leser genießen werden - dass sich der Autor viel Zeit nimmt für nur kleine Ereignisse - wirkt auf Kinder eher langatmig und wenig spannend. Darum ist "Das Licht ist wie das Wasser" unbedingt als vielseitiger Einstieg in das Werk des Nobelpreisträgers anzusehen - allerdings nicht für Jugendliche.

Seinen Titel erhielt der Band von der letzten Geschichte "Das Licht ist wie das Wasser", einer (alb-)traumhafte Erzählung über eine Gruppe von Kindern, die in einer Wohnung in Madrid selig im Licht schwimmen, ehe sie darin untergehen. Kinder wird sie nur bedingt ansprechen. Und auch der Untertitel "Geschichten von der Liebe und anderen Dingen" führt in eine falsche Richtung, denn direkt um die Liebe geht es in keiner der Erzählungen.

Schade, dass dieser kraftstrotzende Prosaband sich in der Reihe "Fischer Schatzinsel" an den falschen Leserkreis wendet. Denn Jugendliche werden ihn wahrscheinlich nicht zu schätzen wissen und Erwachsene dort nicht wahrnehmen.

Rezensiert von Sylvia Schwab

Gabriel García Márquez: Das Licht ist wie das Wasser. Geschichten von der Liebe und anderen Dingen
Mit Vignetten von Joachim Knappe
Aus dem Spanischen von Curt Meyer-Clason, Dagmar Ploetz und Dieter E. Zimmer
Fischer Verlag 2006
188 Seiten, geb., 12,90 Euro