Grossstädte

Mitmach-Kultur statt Anonymität

Gemeinschaftsprojekt Urban Gardening in New York
Gemeinschaftsprojekt Urban Gardening in New York © picture alliance / dpa / Christina Horsten
Von Olga Hochweis · 21.01.2014
Vereinzelung, Verödung, Rücksichtslosigkeit: Die "Krise der Stadt" ist oft beschworen worden. Für Hanno Rauterberg dagegen ist sie ein Ort der Gemeinschaft. Ein inspiriertes Buch über den urbanen Raum.
Der Parkplatz vorm Supermarkt wird zum Kunstraum. Eine Hollywood-Schaukel lädt zum gemütlichen Warten an der Bushaltestelle ein. Bands und DJs veranstalten unangemeldete Live-Konzerte auf der Straße. Hanno Rauterberg, Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit", beschreibt Einzelaktionen innovativer Künstler nicht um ihrer selbst willen. Er liest sie vielmehr als Symptome für einen "urbanen Neuanfang" – die gemeinschaftliche Aneignung des öffentlichen Raums in der Stadt.
"Das Leben, das man so lange aus den Städten vertrieben wähnte, drängt mit Macht in sie zurück, es zieht auf die Promenaden, Plätze, Kreuzungen, auf Parkdecks und selbst unter Autobahnbrücken."
Während sich Diagnosen über die Krise der Stadt – Verödung und Vereinzelung – in den vergangenen Jahrzehnten häuften ("The city is dead") und viele als Konsequenz daraus vom Leben auf dem Land träumten, lautet, so Rauterberg, die kollektive Empfindung der Gegenwart: Wir sind die Stadt. Seine emphatische Grundthese: Nicht nur leben Menschen seit 2008 überwiegend in der Stadt, sie wollen sie auch nachhaltig prägen und setzen gegen Hyper-Individualismus und Anonymität Gemeinschaft und Mitmach-Kultur.
Digitale Netzwerke machen die Gemeinschaft in der Stadt erst möglich
Akteure unterschiedlichster Projekte bedienen sich dabei digitaler Netzwerke, die – so eine weitere These im Buch – mitnichten den einsamen Rückzug an den heimischen Computer zementieren, sondern die Vernetzung und Organisation gemeinschaftlicher Aktionen erst möglich machen.
Das gilt im Besonderen für politisches Engagement, das ohne den öffentlichen Raum der Großstadt nicht denkbar wäre: von den Protesten während des Arabischen Frühlings über Bürgerproteste gegen staatliche Großprojekte bis hin zur Occupy-Bewegung. Einleitend wird auf diese Phänomene zwar Bezug genommen, im Fokus stehen für den promovierten Kunsthistoriker Rauterberg aber soziale und künstlerische Mitmach-Projekte.
Er führt Beispiele an wie das System des "Shared space" einiger Kommunen in den Niederlanden oder der Schweiz, bei dem auf Beschilderungen komplett verzichtet wird, zugunsten des gleichberechtigten Miteinanders von Autofahrern, Fußgängern, Rad- oder Skateboardfahrern. Im Projekt "Essbare Stadt" gibt einstiges Restgrün plötzlich mit Johannisbeersträuchern und Apfelbäumen Gelegenheit zum Pflücken.
Inspiriertes und kluges Nachdenken über die Stadt
So harmlos-unkritisch die angeführten Beispiele auch stellenweise daherkommen – Rauterberg thematisiert durchaus Aspekte, die über das kollektive Wohlgefühl hinausgehen. Wie weit geht der widerständige Charakter gemeinschaftlicher Projekte wirklich? Wie kann der Geist der Vergemeinschaftung auch die politische Landschaft verändern, gar einen Strukturwandel in der Digitalmoderne auslösen? Wie weit greifen bereits Interessen des Marktes in urbane Bewegungen hinein, wenn Firmen in ihren Werbekampagnen den "authentischen" öffentlichen Raum für ihre Zwecke instrumentalisieren?
Treffend nennt Rauterberg sein Büchlein eine "Wanderung über die urbanen Felder und Flure, einen essayistischen Ausflug ins Unterholz und auf die zugigen Höhen, wo es schon deshalb keine Gewissheiten zu besichtigen gibt, weil so vieles im Werden und im Wandel ist." Genau diesen Charakter einer Momentaufnahme vermittelt der Text mit seinem feuilletonistischen, manchmal geradezu begeisterten Tonfall. Thesenfreudig und wohlformuliert lässt dieser Eilflug durch die Vielfalt urbanen Lebens vielleicht die ein oder andere tiefere Analysen vermissen. Wohl aber bietet das Büchlein ein inspiriertes und kluges Nachdenken über die Stadt.
Hanno Rauterberg: Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Digitalmoderne
Edition Suhrkamp, Berlin 158 Seiten
158 Seiten, 12 Euro
Mehr zum Thema