Großstadtlyrikerin im Exil

"Sie dichtete ihr Leben und sie lebte ihre Dichtung", so beschrieb Marcel Reich-Ranicki die Lyrikerin Mascha Kaléko, die von den Nazis ins Exil getrieben wurde. Die kommentierte Gesamtausgabe der jüdischen Wahl-Berlinerin bietet eine Ballung lyrischer und lebensgeschichtlicher Schätze.
Die erste Postkarte stammt aus Paris: "Paris ist schön ... sehr schön. Aber leben, leben in Berlin", heißt es darauf im Jahr 1932. Vierzig Jahre später, Ende November 1972, wünscht Mascha Kaléko der Schriftstellerkollegin Ingeborg Drewitz ein "schönes Weihnachtsfest, mit viel Marzipan und Gänsebraten und Rotkohl", und sich selbst: dergleichen "noch einmal drüben zu erleben." Sie schreibt aus Jerusalem, wo sie seit 1962 lebt. Ende 1974 heißt es in einem ihrer letzten Briefe, nun aus der Schweiz: "Diese "saison en enfer ist leider noch nicht zu Ende." Fünf Wochen später stirbt Mascha Kaléko in einem Zürcher Spital.

Allein schon der Briefwechsel der 1907 als Golda Malka Aufen in Galizien geborenen Dichterin umfasst mehr als zweitausend Seiten – einen Zeitraum von über vierzig Jahren. Er ist hier zum ersten Mal veröffentlicht. Und markiert einen Weg quer durch das 20. Jahrhundert. Berlin, New York, Jerusalem sind dabei die wichtigsten Stationen, das Exil die durchgehende Grundierung. Dabei hatte alle so gut begonnen.

Mit Gedichten in Tageszeitungen macht sich Mascha Kaléko Ende der "Roaring Twenties" in Berlin einen Namen. Sie ist populär, schreibt über Städter und deren Freizeitvergnügen, über berufstätige junge Frauen und die Liebe, macht Werbung für Grammofonplatten und Büstenhalter. Mitte Zwanzig ist sie, als im angesehenen Rowohlt Verlag "Das lyrische Stenogrammheft" erscheint. Im darauf folgenden Jahr wird "Kleines Lesebuch für Große" veröffentlicht.

Nach der zweiten Auflage 1935 erhält Kaléko Schreibverbot und verlässt 1938 mit ihrem zweiten Mann Chemjo Vinaver und dem gemeinsamen Sohn die Stadt, ohne die ihre Lyrik wohl kaum den "Sound" entwickelt hätte, der sie bis heute auszeichnet und unverwechselbar macht: schnoddrig und volkstümlich, mokant, melancholisch, selbstironisch, großstädtisch, pfiffig, traurig, spielerisch und lebensklug.

Im New Yorker Exil hält sich Kaléko mit Werbetexten, nun auf Englisch, über Wasser, für die Lyrik bleibt nur mehr die jüdische Exilantenzeitung "Aufbau" - nicht einmal das wird zu einer reibungslosen Beziehung, der Redaktion schreibt sie 1941 einen Brief, adressiert an: "Hochgefürchteter Druckfehlerteufel".

Die überwältigende Anzahl Briefe in dieser Gesamtausgabe zeigen eine Seite Mascha Kalékos, die bislang wenig Beachtung finden konnte: Der Alltag des Exils wird plastisch, Kalékos Versuche, auch nach dem Krieg das eigene Werk zu publizieren, ihre Sorge um Mann und Kind. Bewundernswert die Kraft und Herzenswärme der Mutter und Ehefrau. Und der Umgang mit dem Phantomschmerz Berlin.

"Schön war die Fremde; doch Ersatz.
Mein Heimweh hieß Savignyplatz."


Weitere zweitausend Seiten dokumentieren die Entwicklung von Mascha Kalékos lyrischem Werk, Aphorismen, ihre Zeitungsartikel, Entwürfe, Prosa- und Werbetexte, dazu kommen umfassende Erläuterungen der Herausgeberin Jutta Rosenkranz, die diese insgesamt vierbändige, verdienstvolle Gesamtausgabe verantwortet.
Wer Mascha Kaléko kennt, wird sich freuen, denn hier ist soviel an ungeahntem Material zusammengetragen, dass man nicht anders kann, als sich festzulesen.

Wer Kaléko, diese "ganz junge großstädtische Dichterin, direkt von Heinrich Heine abstammend" – so Hermann Hesse – nicht kennt, dem werden die Augen übergehen angesichts einer solchen Ballung lyrischer und lebensgeschichtlicher Schätze.

Besprochen von Carsten Hueck

Mascha Kaléko: "Sämtliche Werke und Briefe"
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2012
4110 Seiten, 78 Euro
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