"Großes Bedürfnis nach Informationen"

Susanne Fischer im Gespräch mit Dieter Kassel · 07.03.2011
Die Journalistin Susanne Fischer vom Institute for War and Piece Reporting hat eine Woche lang die Entwicklung der tunesischen Medien nach der Jasmin-Revolution beobachtet. Das Informationsbedürfnis der Bevölkerung kann dort noch längst nicht befriedigt werden und der Umgang mit der neuen Freiheit muss erst mühsam erlernt werden, berichtet sie.
Dieter Kassel: In Tunesien fing alles an: Am 14. Januar wurde dort der Diktator Ben Ali gestürzt und vor allem die jungen Menschen hatten damit der Welt und nicht zuletzt ihren arabischen Nachbarn gezeigt, dass Freiheit machbar ist. Diese Freiheit, die gilt seitdem vor allem auch für die Medien, und das ist nicht immer einfach. Denn mit unzensierter politischer Berichterstattung haben die Tunesier schlichtweg wenig Erfahrung.

Susanne Fischer ist Koordinatorin für den Nahen Osten beim IWPR, das ist das Institute for War and Piece Reporting, und sie war unterwegs in Tunesien und hat dort vor allem die Redaktionen von Radio- und Fernsehsendern, Zeitungen und Internetangeboten besucht.

Ich habe kurz vor der Sendung mit ihr gesprochen, sie sitzt inzwischen wieder in ihrem Büro in Beirut im Libanon, und ich habe sie als Erstes gefragt, ob die inländischen Medien in Tunesien das Bedürfnis der Menschen nach politischer Berichterstattung überhaupt befriedigen können?

Susanne Fischer: Nein, das können sie nicht. Man muss sich das ja so vorstellen: 23 Jahre lang durften die tunesischen Medien über Politik so gut wie gar nicht berichten, oder sie durften nur im Rahmen der staatlichen Richtlinien schreiben, das heißt, sie durften im Wesentlichen berichten, was der Präsident gemacht hat, was der Präsident gesagt hat und so weiter. Aber sie durften sich keine Meinung bilden, sie durften nicht kritisch berichten.

Und nun müssen sie genau das tun: Sie müssen ständig über Politik berichten, sie sollen die Menschen über die unzähligen politischen Prozesse informieren, die im Moment laufen. Es stehen Wahlen bevor, es wird über die Verfassung diskutiert, es bilden sich Parteien, die miteinander konkurrieren werden für die Wahlen. Und darauf sind die Medien im Moment noch überhaupt nicht vorbereitet.

Kassel: Wer macht denn das im Moment in den Medien, sind das die Journalisten, die vorher eben staatskonform berichtet haben, oder woher kommen die Leute jetzt?

Fischer: Es sind überwiegend, vor allem in den staatlichen Medien, noch genau dieselben Köpfe wie vorher. Es hat relativ wenig Wandel gegeben, vielleicht hier und da wurde ein Chefredakteur ausgetauscht, aber im Prinzip sind es genau die gleichen Leute, die die ganze Zeit für das vorherige Regime geschrieben haben, die nun über die Revolution und über den Wandel schreiben sollen.

Und das ist auch das, was wirklich die Menschen sehr ärgert und weshalb sie wenig Vertrauen in die Medien haben. Sie sagen, das sind alles Wendehälse, warum sollen wir denen plötzlich glauben, sie haben uns jahrelang belogen und nun tun sie so, als wären sie auf unserer Seite – was sie ihnen nicht abnehmen.

Kassel: Nun hat natürlich während des politischen Wandels, während der politischen Revolution das Internet eine sehr große Rolle gespielt. Welche Rolle spielen die Informationen aus dem Netz denn jetzt?

Fischer: Das Internet spielt immer noch eine sehr wichtige Rolle, denn da die Staatsmedien nach wie vor diese Rolle nicht wirklich wahrnehmen oder die Menschen ihnen nicht trauen, holen sich vor allem die jungen Leute immer noch sehr viele Informationen aus dem Internet.

Ich war in der Woche, in der ich in Tunesien unterwegs war, mit einem jungen Blogger unterwegs, und ich habe ihn dann natürlich nach seiner Meinung gefragt, zu dieser Zeitung, zu diesem Radiosender, et cetera. Und bei den Zeitungen hat er eigentlich durch die Reihe gesagt: Die lese ich nicht, die lese ich nicht, da bekomme ich sowieso keine Information. Er sagt, er möchte sie gerne lesen, aber er weiß einfach nicht, wo er da die Information finden soll. Und für ihn ist nach wie vor Facebook die wichtigste Informationsquelle, einzelne Blogs von Leuten, bei denen er weiß, dass er ihnen trauen kann.

Aber andererseits habe ich eine andere Frau zum Beispiel auf einer Demonstration getroffen, die mir gesagt hat: Es kann sich ja nicht die ganze Bevölkerung bei Facebook immer informieren, wir brauchen zuverlässige, richtig gute, professionelle Medien.

Kassel: Das heißt, das Bedürfnis nach vernünftigen Informationen in den Zeitungen, im Radio und im Fernsehen ist durchaus da?

Fischer: Das Bedürfnis ist riesig, denn die Menschen wissen ja überhaupt nicht, was im Moment hinter den Kulissen passiert. Es gibt diverse politische Komitees, die an dieser und an jener Reform basteln, es gibt noch nicht einmal eine klare Berichterstattung darüber, wann denn die Wahlen nun stattfinden und in welcher Form, man weiß nicht: Wird es eine neue Verfassung geben oder nur eine reformierte Verfassung? Und die Menschen haben ein ungeheuer großes Bedürfnis nach Informationen.

Die meisten Radiosender und Fernsehsender versuchen im Moment damit sich aus der Affäre zu ziehen, dass sie eine Talkshow nach der anderen veranstalten, aber das allein ist ja auch nicht die Lösung, dass man immer fünf Leute da ins Studio setzt, die dann miteinander reden, ohne das dann wirklich einzuordnen und zu analysieren.

Kassel: Das heißt, es ist nicht nur so, wie Sie schon beschrieben haben, dass zum Teil die alten Journalisten immer noch irgendwo sitzen, die auch schon vorher Ben-Ali-treu berichtet haben, sondern es ist so, dass zum Teil – Sie haben die Talkshows gerade genannt, wo vor sich hingeredet wird – da auch Leute sitzen, die eigentlich gar keine journalistische Erfahrung haben?

Fischer: Ja, durchaus. Also viele Leute, die vorher in der Opposition waren, die jetzt politische Parteien gründen, Anwälte, Richter, Ingenieure, also eher so die technische Elite, Menschenrechtsaktivisten, eigentlich eine bunte Truppe, die da zusammensitzt, aber die eben natürlich nicht mit journalistischen Maßstäben da rangehen, sondern dann ihre Meinung sagen und zum Teil dann auf einen Moderator treffen, der ebenfalls keine Erfahrung darin hat, eine solche Runde zu moderieren, und das kann dann endlos ausufern. Manche von diesen Shows dauern drei Stunden lang und sind wirklich kaum anzusehen.

Kassel: Das heißt, da werden dann auch zum Teil ganz wilde Meinungen geäußert, und keiner hinterfragt das?

Fischer: Ja, das ist ohnehin ein großes Problem im Moment. Das ist vielleicht auch verständlich natürlich, dass nach den Jahren der Unterdrückung das Pendel dann erst mal ins andere Extrem geht. Dass die Menschen sagen, jetzt können wir alles sagen, und das geht dann oft schon hart an den Rand der Beleidigung. Ein Journalist sagte mir, er habe den Eindruck, dass im Moment die Diffamierung der tunesische Nationalsport sei, weil man jetzt halt das Gefühl hat, ich kann alles sagen – aber man muss natürlich erst mal lernen, mit dieser Freiheit auch umzugehen.

Kassel: Welche Rolle spielen denn im Moment die ausländischen Medien, auf der einen Seite natürlich Al Arabija, El Dschasira, aber ich habe in Ihrem Blog zu dieser Reise auch gelesen, dass Sie mal für eine Journalistin des französischen Senders France 24 gehalten wurden, und das war ganz toll, und als Sie gesagt haben, ich bin es nicht, war die Enttäuschung groß. Das heißt, die ausländischen Medien sind immer noch sehr wichtig?

Fischer: Ja, also vor allem eben die arabischen und die französischen Medien. Tunesien ist natürlich sehr stark durch Frankreich geprägt, viele Menschen sprechen Französisch, und France 24 hat wirklich eine sehr, sehr wichtige Rolle während dieser Revolution gespielt. Sie haben berichtet, als viele andere Sender noch nicht oder nicht mehr berichtet haben, aus Gegenden wie Sidi Bouzid, wo sich der junge Tunesier angezündet hat, womit alles begonnen hat.

Und das haben die Menschen nicht vergessen, und das sind einfach Länder, denen sie trauen. Das ist wirklich … wenn man irgendwo in ein Café oder in ein Restaurant geht, läuft eigentlich immer entweder France 24 oder El Dschasira.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur heute Morgen mit Susanne Fischer, Journalistin, Koordinatorin des Institute for War and Peace Reporting für den Nahen Osten, sie ist jetzt wieder in Beirut im Libanon, war aber eine gute Woche in Tunesien unterwegs, um sich anzuschauen, wie dort der Journalismus inzwischen funktioniert oder eben auch nicht funktioniert. Das haben Sie ja erklärt, Frau Fischer. Wie sieht es denn, wo die Probleme ja da sind und auch erkannt werden, mit der Ausbildung von Journalisten aus? Findet die in Tunesien überhaupt statt?

Fischer: Sie hat stattgefunden, natürlich auch in der Vergangenheit, an den Universitäten und an bestimmten Instituten. Es gab das …, das war ein staatliches Institut zur Journalistenausbildung, wo fast alle Journalisten ausgebildet wurden, die zum Beispiel beim staatlichen Fernsehen oder bei den staatlichen Zeitungen arbeiten. Dort hat man aber eben sehr starr bestimmtes Handwerk gelernt, ohne bestimmte Freiheiten und kritische Meinungsbildung zum Beispiel zu lernen. Und viele Radiosender, mit denen wir zum Beispiel jetzt gesprochen haben, haben uns gesagt, dass sie diese Studenten dann von dem Institut bekommen und dann mit der Ausbildung eigentlich erst mal anfangen müssen, weil das sehr theoretisch ist. Also man lernt dann wirklich die Kommunikationstheorie der letzten Jahrhunderte und so weiter, aber nicht wirklich das praktische Handwerk, was man jeden Tag in der Redaktion braucht.

Kassel: Aber wie könnte sich das jetzt verbessern? Ich meine, wenn es schon zu wenig Journalisten gibt, die ihre Arbeit wirklich machen bei den Sendern und den Redaktionen, gibt es wahrscheinlich auch keine, die ausbilden können.

Fischer: Es gibt natürlich Einzelne, die vielleicht im Ausland gearbeitet haben, die jetzt zurückkommen oder größere Freiheiten sich herausgenommen haben, weil sie bei einer verbotenen Oppositionszeitung gearbeitet haben zu Zeiten Ben Alis. Aber es wird sicherlich auch eine wichtige Rolle sein für internationale Organisationen wie Reporter ohne Grenzen oder das Institute for War and Peace Reporting hier technische Hilfe anzubieten und zumindest kurzfristig – denn es ist ja nicht viel Zeit bis zu den Wahlen, kurzfristig vielleicht intensive Kurse anzubieten, vor allem zu den Themen politische Berichterstattung und Wahlkampfberichterstattung.

Denn wie sollen freie und gerechte Wahlen stattfinden, wenn die Medien nicht angemessen darüber berichten und die Menschen sich nicht informieren können?

Kassel: Besteht auch Gefahr, dass da irgendjemand die Meinungshoheit an sich reißt, weil er vielleicht als Erster einen scheinbar seriösen Sender oder eine seriöse Redaktion aufbaut?

Fischer: Natürlich hat das staatliche Fernsehen, das staatliche Radio schon immer noch ein ziemliches Monopol, einfach, weil sie die ganzen Sendefrequenzen haben. Es gibt bis jetzt zum Beispiel erst zwei richtige Lizenzen, zwei FM-Lizenzen für Privatradios in Tunesien. Insofern ist natürlich schon die Gefahr, dass das staatliche Fernsehen nach wie vor versucht, Einfluss zu nehmen und zum Beispiel bestimmte Gruppen zu Pressekonferenzen und so weiter nicht zulässt.

Kassel: Auf der anderen Seite, in die Richtung dachte ich jetzt – wir von Europa aus denken ja gerne in diese Richtung –, geht man davon aus, dass bei den Wahlen wahrscheinlich auch eine islamistische Partei relativ viele, vielleicht sogar die meisten Stimmen bekommen wird. Wie sieht es denn da aus? Gibt es denn Journalisten, die auf deren Seite sind? Nun besteht vielleicht – ich sage es jetzt typisch europäisch – die Gefahr, dass es Medien gibt, die eher zu deren Gunsten berichten?

Fischer: Ich glaube, das wird sich alles in den nächsten Wochen und Monaten sortieren, also bislang gibt es keine Medien, die islamistisch in dem Sinne wären, dass sie sagen, wir sind jetzt die Plattform für die Islamisten hier in Tunesien. Ich habe relativ wenig Leute getroffen, die wirklich große Sorge hatten, dass sie jetzt dort die Macht übernehmen. Ich war natürlich viel mit jungen Leuten unterwegs und die sind wirklich durch und durch säkular, und im Moment kann ich auch noch nicht sehen, dass sich das jetzt sehr schnell ändert.

Kassel: Wir reden jetzt über Tunesien, weil Sie sich das dort vor Ort ganz genau angeguckt haben, aber diese Probleme mit wenig Journalisten vor Ort, mit wenig Infrastruktur, was auch die Ausbildung angeht, die werden wir doch vermutlich angesichts der Aufstände in anderen arabischen Ländern bald in vielen Ländern Nordafrikas und auch der arabischen Halbinsel haben, oder?

Fischer: Ja, das ist zu erwarten, wobei natürlich so, wie auch die Revolution in jedem Land anders verläuft und andere Hintergründe hat und andere Regierungen hervorbringen wird, ist auch die Presselandschaft in jedem Land anders.

In Ägypten zum Beispiel ist die Presse sehr, sehr viel weiter. Es gab trotz Zensur, trotz Unterdrückung, trotz Verhaftung von Journalisten sehr viel mehr Spielraum für die Presse, oder die Journalisten haben sich einfach mehr Spielraum herausgenommen, sodass es dort vielleicht leichter sein wird und schneller gehen wird, eine funktionierende demokratische Presse aufzubauen.

In Libyen wird das sicherlich eine ganz andere Herausforderung sein, die noch viel, viel größer ist, weil das Land viel mehr abgeschottet war vom Rest der Welt, von Europa, vom Westen.

Linktipp:
Mehr zum Umbruch in Nordafrika und im Nahen Osten auf Deutschlandradio · Der arabische Aufstand
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