Große Vernunft oder Hirngespinst

Rezensiert von Susanne Mack · 15.03.2006
Im Februar 2002 trugen Joseph Ratzinger, damals noch Kardinal, und der bekennende Atheist Paolo Flores d’ Arcais in Rom einen öffentlichen Disput aus. Knapp 3000 Römer hörten Ratzinger und dem Philosophen Flores d'Arcais, zu. Das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt. Neuerdings kann man es auch auf Deutsch nachlesen: In einem schmalen Buch mit dem Titel "Gibt es Gott ?
"Gibt es Gott"? – Wenn ein Atheist und ein Christ sich über diese Frage streiten, dann dürfte die Diskussion ziemlich schnell beendet sein … Der Christ sagt: "Selbstverständlich gibt es Gott!", der Atheist sagt: "Selbstverständlich gibt es keinen Gott!" – Und der Fall ist erledigt. Das scheint aber nur so. Denn beweisen kann es keiner von beiden. Und wichtiger als die Frage, ob es Gott gibt, ist die Frage, was sich für den Atheisten ändern würde, wenn es Gott gäbe und für den Christen, wenn es ihn nicht gäbe.

Jeder der Herren hat versucht, dem anderen seinen Standpunkt zu erklären. Dass man sich gegenseitig nicht überzeugen wird, war den beiden natürlich klar, aber es ist schon eine seltene Veranstaltung, wenn ein Christ und ein Atheist miteinander wirklich über ihren Glauben und ihren Unglauben reden, und zwar auf höchstem geistigem Niveau:

Auf der einen Seite der Papst, der damals noch Kardinal war, mit allen philosophischen Wassern gewaschen. Ratzinger hat ja nicht nur Theologie, sondern auch Philosophie studiert. Und auf der anderen Seite einer der bekanntesten Philosophen Italiens, Paolo Flores d’Arcais, ein Linker und ein Atheist, der sich aber in der Bibel bestens auskennt. Was da den Zuhörern in Rom geboten wurde, das war kein oberflächliches Geplänkel. Da ging es wirklich ans Eingemachte.

Flores d’Arcais kam natürlich mit der ganzen Armada der klassisch-atheistischen Argumente. Er sagt, die Vorstellung von Gott ist ein natürliches Hirngespinst. Das haben sich Menschen zurechtgemacht, die mit dem Gedanken an ihren Tod nicht zurechtkommen. Da wird ein "Übervater im Himmel" konstruiert, weil man sonst an den Leiden des Lebens verzweifelt. Vor allem: Der religiöse Glauben widerspricht ganz und gar der denkenden Vernunft des Menschen.

Der Papst setzt dem entgegen, dass da die alten Philosophen offensichtlich anderer Meinung waren. Aristoteles sagt: Es gibt einen Gott. Dieser Gott ist die "große Vernunft", und diese "große Vernunft" hat die Welt erschaffen. – Darauf Flores d’Arcais: "Das stimmt, Herr Kardinal, aber als Philosoph darf man zwar behaupten, dass es einen Gott geben könnte! Man darf aber nicht behaupten, dass es diesen Gott auch notwendig geben muss - denn das kann keiner beweisen."
Darauf Ratzinger: "Da haben Sie vollkommen recht, aber die Erfahrung, dass es diesen Gott auch wirklich gibt, das ist keine Sache des Kopfes allein, sondern eine Sache der ganzen Seele, also auch eine des Gefühls." Wer sich von der Wirklichkeit Gottes überzeugen will, so Ratzinger, der sollte Vertrauen wagen und einfach anfangen zu beten – und wenn er in seinem Bemühen nicht nachlässt, dann wird Gott ihm auch antworten.

Diese Verfahrensweise erscheint einem Atheisten völlig absurd. Ratzinger aber ist Christ und besteht darauf: Wer Vertrauen wagt und sich Gott zuwendet, der erfährt eine Dimensionen der Wirklichkeit, die ein Nichtglaubender nicht kennt und die es für ihn dann eben auch nicht gibt. Der Atheist wiederholt: "Alles Hirngespinste!", der Christ entgegnet: "Gott selbst ist der Grund dafür, dass der Mensch solche trostvollen "Hirngespinste" überhaupt entwickeln kann!".

Wie zu erwarten war können sich die beiden Herren nicht einigen. Sie kommen genau soweit, wie Immanuel Kant schon vor rund 300 Jahren gekommen ist: Ob es einen Gott gibt oder nicht, kann die Vernunft nicht entscheiden, sie kann es nicht beweisen, sie kann es auch nicht widerlegen.

Flores d'Arcais: In der Kirche hatten selten echte Christen das Sagen

Doch es gab durchaus auch Themen, bei denen der Christ und der Atheist einer Meinung waren. Einigen konnten sie sich auf die Gebote der christlichen Ethik, wie sie in den Evangelien formuliert sind. "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst", oder "Euer Ja sei ein Ja, euer Nein sei ein Nein, alles andere ist von Übel!", das sind Normen des menschlichen Umgangs, auf die sich vernünftige Leute einigen können und müssen, wenn sie ein friedliches und geglücktes Zusammenleben anstreben, da sind Flores d’Arcais und Ratzinger einer Meinung. Flores d’Arcais gibt allerdings zu: Ein echter Atheist hat es schwerer mit der Nächstenliebe als ein echter Christ, weil der Christ die Liebe Gottes als ein Geschenk betrachtet, das er weitergeben möchte. Aber, so Flores d’Arcais weiter, die Geschichte der Kirchen hat gezeigt, dass da selten echte Christen am Werk waren. Zumindest nicht in den Positionen der Macht. Und deshalb hat sich die Kirche oft genug verhalten, als ob es die christlichen Gebote nie gegeben hätte.

In diesem Punkt gibt ihm Ratzinger Recht. "Die Geschichte der Kirche ist die Geschichte der Schwäche der Menschen", sagt er. Als dieses Gespräch in Rom geführt wurde, hatte der damalige Papst Johannes Paul II. gerade öffentlich bekannt, dass die Kirche viel Schuld auf sich geladen hat: Schuld gegenüber den Juden, den Frauen (da ist die Hexenverbrennung gemeint) und den Indios in Südamerika. Auch Ratzinger meint, die ethischen Gebote, so wie sie Christus formuliert und selbst auch gelebt hat, sind Ideale des menschlichen Zusammenlebens. Und in Bezug auf diese Ideale hat die Kirche leider oft genug versagt, deshalb muss es der Kirche jetzt auch um Reinigung und Reue gehen – und natürlich um Besserung.

Ratzinger: Ungeborene tragen das ganze 'Programm Mensch' in sich

Im Allgemeinen kommen der Christ und der Atheist am Ende zu den gleichen ethischen Überzeugungen, im Besonderen gehen die Meinungen dann oft wieder auseinander – bis hin zur scharfen Kontroverse. Zum Beispiel, wenn es um das Thema "Abtreibung" geht. Für Ratzinger wird bei einer Abtreibung ein Mensch um sein Leben gebracht, für Flores d’Arcais nur ein Haufen Zellen. Ratzinger dazu: "Aber dieser Zellhaufen, das müssen Sie zugeben, trägt das ganze ’Programm
Mensch’ bereits in sich." Flores d’Arcais: "Das ist dennoch kein Grund, eine Abtreibung mit einem Mord gleichzusetzen. So eine Argumentation, Herr Kardinal, ist unmoralisch!" Ratzinger: "Keine Argumentation kann unmoralisch sein, die sich stark macht für die Rettung von Menschenleben!" In diesem Stil wird da miteinander gerungen, die beiden Herren schenken sich nichts.

Trotz aller Schärfe der Auseinandersetzung, haben die beiden Respekt voreinander: Sie hören dem anderen zu, und mitunter – in Einzelfragen wenigstens – lassen sie sich vom Gegenüber auch belehren. Gad Lerner, der Moderator des Gesprächs, lobt am Ende die Fairness der beiden und ihre geistige Offenheit trotz gegensätzlicher Grundüberzeugung:."Es ist ein Zeichen von Weisheit", bemerkt er, "gerade dem Beifall zu spenden, der uns aus der Fassung und zum Nachdenken bringt."

Paolo Flores d'Arcais/ Joseph Ratzinger: Gibt es Gott? Wahrheit, Glaube, Atheismus
Übersetzt von Friederike Hausmann
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2006
105 Seiten