Aus den Feuilletons

Über die toxische Männlichkeit

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Das Foto zeigt den Filmproduzenten Filmproduzenten Harvey Weinstein, dem viele Frauen übergriffiges Verhalten und sexuelle Gewalt vorgeworfen haben.
Der Filmproduzent Harvey Weinstein ist wegen seiner mutmaßlichen toxischen Männlichkeit zu einer Persona non grata geworden, stellt die "Süddeutsche Zeitung" fest. © dpa / picture alliance / newscom / John Angelillo
Von Gregor Sander · 02.07.2019
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Die "Süddeutsche Zeitung" befasst sich mit dem Begriff der "toxischen Männlichkeit" und seinem Wandel in Soziologie, Psychologie und Gender-Theorie. Dass es laut "SZ" fast immer Männer sind, wirft die Frage auf, ob auch Frauen "toxisch männlich" sein können.
"Anfänge sind matchentscheidend", schreibt Daniel Ammann und das gilt natürlich auch für diese Kulturpresseschau. Aber den ersten Satz haben wir uns ja nun schon vom Autor der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG geborgt, und sind so mittendrin in seiner kleinen "Poetik des Anfangs".

Über die Wichtigkeit des ersten Satzes

"Du musst den ersten Satz einer Geschichte so schreiben, dass, wer immer ihn liest, auch den zweiten lesen will", riet William Faulkner einer namenlosen jungen Autorin. Und auch der größte Vorschlaghammer unter allen Anfangsratgebersätzen fehlt in diesem Text natürlich nicht: "'Mit einem Erdbeben anfangen und dann langsam steigern!', wies der Hollywood-Produzent Samuel Goldwyn seine Drehbuchautoren an."
Das ist natürlich Blödsinn, weil das niemand kann, aber es klingt trotzdem gut. Vielleicht hat ja auch Juli Zeh recht. Aus ihrer Frankfurter Poetikvorlesung hat es dieser ganz prosaische Satz in die NZZ geschafft: "Das Besondere am ersten Satz ist, dass er am Anfang steht. Diese herausgehobene Position lädt ihn ganz von selbst mit Bedeutung auf."

Der Traum von einer anderen Welt

Oder ist der Anfang gar nicht so wichtig, weil man ja auch immer mit bestimmten Erwartungen an einen Text herangeht. Etwa wenn Jan Paersch in der taz über das 70.000 Zuschauer große Fusion-Festival für elektronische Musik an der Müritz schreibt:
"Die Fusion zeigt: Eine andere Welt ist möglich. Eine Welt ohne Handyempfang, in der keiner Tiere isst und köstlichstes Essen dennoch jederzeit erhältlich ist, eine Welt mit geringsten Verboten, die dennoch stressfrei funktioniert, weil sie eine Welt der Rücksichtnahme ist."
Das klingt natürlich schon sehr tazig. Hätte Henryk M. Broder das in der Tageszeitung DIE WELT geschrieben, dann wäre das schon spannender, doch der bespricht lieber den Roman des ihm offensichtlich persönlich bekannten Werbetexters Hartmut Johann Friedrich Baptist Bauer, der für Sprüche wie "Ytong, der Stein fürs Leben" oder "Bei ARD und ZDF sitzen Sie in der ersten Reihe" verantwortlich war.
Im Roman geht es um die 50er-Jahre in einem westdeutschen Kaff und ein Wäschestück ist hier der größte vorstellbare Sehnsuchtsort: "Dafür vermochte ein an einer Wäscheleine hängender Büstenhalter den Erzähler in den Wahnsinn zu treiben, weil er es nicht schaffte, 'das Wäschestück anzuschauen, ohne zugleich daran zu denken, dass das, was man sah, nichts anderes war als eine Art Behältnis für das, was man nicht sah und auch unter keinen Umständen sehen durfte'."

Können auch Frauen "toxisch männlich" sein?

Über den ersten Satz dieses Romans erfährt man übrigens nichts. Dafür macht sich die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG begriffliche Sorgen: "Zur Problematik des Begriffs 'toxische Männlichkeit'", überschreibt Nicolas Freund seinen Text, der die Erste-Satz-Probe locker besteht: "Toxische Männlichkeit macht echt aggressiv."
Dieser Satz ist nicht unbedingt ein Erdbeben, aber er zieht den Leser in den Text über die Wandlung dieses Begriffes aus der Soziologie, Psychologie und Gender-Theorie durch die MeToo-Debatte, bis man über folgenden Satz stolpert:
"Manche Männer – es sind fast immer Männer – , wie etwa der Schauspieler Kevin Spacey oder der Filmproduzent Harvey Weinstein, gelten als toxisch, weil sie zu Personae non gratae geworden sind. Aber heißt dieses: "Es sind fast immer Männer", dass auch Frauen "toxisch männlich" sein können? Das wird in der SZ leider nicht geklärt.

Einhellige Bewunderung für eine große Sängerin

Fast alle Feuilletons gratulieren der Mezzosopranistin und Regisseurin Brigitte Fassbaender zum 80. Geburtstag. Manuel Brug titelt in der WELT: "Zwei Töne - und man weiß, wer singt." Während Julia Spinola in der SZ jubelt: "Diese Gleichzeitigkeit von Unbedingtheit und Präzision, von Identifikation und Ehrfurcht, von Körperlichkeit und Durchgeistigung ist neben der funkelnden Glut ihrer Stimme das größte Geheimnis dieser Sängerin, die zu den begnadetsten des Jahrhunderts zählt."
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG kommt die Sängerin selbst zu Wort und stellt folgende Anforderung an die Bühnenpräsens: "Eine gewisse Aura muss sein."
Das lassen wir als letzten Satz einfach mal stehen.
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